„Revolution“? Die Tagesschau soll länger werden – dafür hagelt es Kritik

Dass mich die 75 Jahre alte Tante ARD noch einmal derart überraschen kann: Die „Tagesschau“ um 20 Uhr soll künftig doppelt so lang werden, so die Idee der Programmdirektion in München. Die Redaktion ARD-aktuell in Hamburg hat bereits Probesendungen dazu produziert. Von einer „Revolution“ ist in der „Süddeutschen Zeitung“, den „Stuttgarter Nachrichten“ und auf „Stern.de“ zu lesen.
Kann man die Verlängerung einer TV-Sendung als „Revolution“ bezeichnen? Überhaupt sind die Reaktionen verblüffend. Von einem „waghalsigen Alleingang“ schreibt beispielsweise DWDL, der „Kamikaze-Plan“ sei „surreal“. Und die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ fragt, ob nun „der gelungene Feuerwehreinsatz, um die Katze von Nachbars Baum zu holen, und als Abbinder der Sack Reis, der seit Jahr und Tag in China aus dem Gleichgewicht gerät“, thematisiert würden.
Krimis, Liebesschnulzen und Schlagersendungen
Auch Sabine Rau, ehemalige ARD-Studioleiterin in Paris, ist dagegen und meint auf der Plattform LinkedIn: „Wer das aufweichen will, legt die Axt an das mit Abstand erfolgreichste ARD-Format.“ Ulrich Deppendorf, Ex-Chefredakteur der „Tagesschau“, schreibt als Fazit unter seinen Artikel: „Nicht jede Tradition muss abgeschafft werden!“ Von Rainald Becker, ARD-Chefredakteur a. D., heißt es dazu: „Stimme uneingeschränkt zu.“ Hier eine Widerrede gegen diese seltene Einheitsfront: Zeigt die ARD nicht genug Krimis, Liebesschnulzen, Talkshows und Schlagersendungen oder Fußballspiele? Was ist gegen eine Nachrichtensendung einzuwenden, die nun mehr Zeit für Erklärung, Einordnung und Vertiefung hat? Denn genau das wünschen sich viele Zuschauer, wie man aus Befragungen weiß.
Auch die Medienwissenschaft hat längst nachgewiesen, dass die Vermittlung komplexer Zusammenhänge so besser gelingen kann. Konsumenten haben großes Interesse an harten News. Sie hören sich in Scharen lange Podcasts mit politischen Inhalten an. Im analogen Fernsehen wird das Bedürfnis der User nach qualitativ hochwertigen Nachrichten nur selten befriedigt.
[etd-related posts=“4730879″]
„Manchmal habe ich in der Planung am Bleistift gekaut“
Das komplexe Weltgeschehen in 15 Minuten zu pressen, ist mit immer mehr Abstrichen verbunden. Und Nachrichten gehören zum Kernauftrag des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Zieht man von den 15 Minuten Sendezeit der „Tagesschau“ Elemente wie die Begrüßung, die Lottozahlen, den Sport, das Wetter und die Verabschiedung ab, bleiben oft nur 7 bis 8 Minuten für Politik und Wirtschaft übrig.
Manchmal habe ich in der Planung der „Tagesschau“ vormittags am Bleistift gekaut: Wie sollen wir am Abend Schwarzbild vermeiden? Es ist zum Beispiel an einem Sonntag in den Sommerferien oft sehr ruhig gewesen und es gab zu wenig Themen, um die „Tagesschau“ 15 Minuten lang mit relevanten Inhalten zu füttern.
Viel häufiger habe ich den umgekehrten Fall erlebt: Wie sollen wir all diese starken Themen unterbringen? Wenn der Papst stirbt, sterben mit ihm fast alle anderen Themen des Tages, da die „Tagesschau“ 10 Minuten lang über das Ableben des Oberhauptes der katholischen Kirche berichtet.
[etd-related posts=“5107092″]
Nachrichtensendungen im Ausland länger
Dazu muss man wissen: An einem normalen Tag schaffen es nur fünf, sechs Themen als Beitrag in die Hauptausgabe. Oft ist ein Beitrag nur 90 Sekunden lang. Trotzdem sind so mit der 25 Sekunden langen Anmoderation bereits fast 12 Minuten der Sendung um. Dazu kommen drei, vier kurze Meldungen zu je 25 Sekunden – da muss der Chef vom Dienst bereits 1 Minute überziehen, um noch Begrüßung, Verabschiedung und Wetter unterzubringen.
Wer je dem täglichen Wahnsinn der im Minutentakt spannende Meldungen aus aller Welt ausspuckenden Nachrichtenagenturen ausgesetzt war, weiß, dass maximal zehn Themen sehr wenig sind für eine Nachrichtensendung, die das Wichtigste der letzten 24 Stunden abbilden soll.
[etd-related posts=“4689023″]
Die meisten Senderverantwortlichen weltweit sehen das genauso, weswegen ihre TV-News meist länger als 15 Minuten dauern. Der „Österreichische Rundfunk“ sendet „Zeit im Bild“ von 19:30 bis 20 Uhr. Die Schweizer „Tagesschau“ beginnt halb acht und dauert 30 Minuten. Hier gibt es dann auch täglich Platz für einen Beitrag zur Kultur – einen Themenbereich, der in der deutschen „Tagesschau“ völlig unterbelichtet ist.
Die Dänen sitzen ab 19 Uhr vor dem öffentlich-rechtlichen TV2 und schauen die halbstündige „19 News“. Die Franzosen sehen ab 20 Uhr auf „France2“ für 35 Minuten die Hauptnachrichtensendung. Die Liste ließe sich beliebig verlängern.
Inhaltliche Kritik bleibt
Damit wir uns nicht missverstehen: An den Problemen der „Tagesschau“ würde eine längere Ausgabe natürlich nichts verändern. Inhaltlich stünde die „Tagesschau“ vor den gleichen Problemen wie bisher: Sie ist in der Auswahl ihrer Themen gegenüber der Regierung zu unkritisch, boulevardesk sowie zu westlich orientiert, in ihrer Sprache bevormundend sowie wertend und die Redaktion ist politisch zu einseitig besetzt.
Mit immer mehr vom immer gleichen wäre wenig gewonnen. Nach wie vor treibt der Faktenfinder sein Unwesen auf „tagesschau.de“, kennt keiner die zehn einflussreichen Chefs vom Dienst, müssen sich diese dem Dialog mit den Zuschauern nicht stellen oder werden die Stellen der Chefredaktion nicht ausgeschrieben.
Wer über die größte Oppositionspartei ausschließlich negativ berichtet, regelmäßig journalistische Standards verletzt, offizielle Verlautbarungen der Regierungen kaum hinterfragt und ihre Vertreter in Interviews mit Samthandschuhen anfasst, muss sich nicht darüber wundern, dass in einer aktuellen Studie von WDR und dimap 42 Prozent der Befragten angeben, gar kein oder wenig Vertrauen in die Arbeit des ÖRR zu haben.
[etd-related posts=“5131999″]
Der aktuelle Wechsel von Sarah Frühauf und Georg Link aus dem ARD-Hauptstadtstudio ins Bundesinnenministerium beziehungsweise ins Bundesverkehrsministerium wird das Vertrauen sicher nicht wachsen lassen, sondern im Gegenteil das Vorurteil verstärken, dass Politik und Medien unter einer Decke stecken würden.
Längere „Tagesschau“ kostet kaum mehr
Natürlich gibt es in der ARD bereits die längeren „Tagesthemen“. Nur hat deren Bedeutung kontinuierlich abgenommen, weil der Beginn der Sendung immer weiter nach hinten geschoben wurde und es keinen festen Sendebeginn gibt. TT beginnt mal um 22:45 Uhr, mal um 23:15 Uhr und dann fällt die Sendung gleich ganz aus. Damit hat man viele Zuschauer verloren.
Geld würde die Verlängerung übrigens nicht kosten. Redaktion, Sprecher und Regie sind ohnehin da. Ob diese nun 15 Minuten oder 30 Minuten senden, ist finanziell gesehen fast egal. Auch die Korrespondenten und Studios im In- und Ausland, welche die Beiträge für die „Tagesschau“ zuliefern, hätten nur einen unwesentlichen Mehraufwand.
Viele Stücke entstehen ohnehin für das Regionalprogramm. Und im Wesentlichen würde die Sendeverlängerung dazu führen, dass die Stücke 1 Minute länger wären und ab und zu durch eine Nachfrage zum Reporter vor Ort oder ein vertiefendes Expertengespräch ergänzt würden.
[etd-related posts=“5134089″]
Verlängerung als Fortschritt?
Der Plan der „Tagesschau“-Verlängerung ist angeblich eine Idee der ARD-Programmdirektorin Christine Strobl, der Tochter des CDU-Urgesteins Wolfgang Schäuble. Ich kritisiere die ARD und die „Tagesschau“ gern und oft – aber nicht aus Prinzip. Bereits vor zwei Jahren erklärte Anna Mayr in der „Zeit“ unter der Überschrift „Die ‚Tagesschau‘ ist eine sehr schlechte Sendung, deshalb muss sie viel länger dauern“, dass die Sendung seit 1961 im „A sagt, B sagt“-Modus steckengeblieben sei. Und weiter:
Wenn man etwas schlecht findet, fordert man oft dessen Abschaffung (zum Beispiel bei Ministerinnen). Die Tagesschau aber kann nur besser werden, wenn sie sich verlängert.“
Die Gegner der Idee argumentieren: Eine Verlängerung würde den Sendebeginn der nachfolgenden Sendungen verschieben, möglicherweise auch bei RTL, ZDF und „Sat.1“, bei Sendern wie „Phoenix“, „3.Sat“ oder BR ohnehin, da sie die „Tagesschau“ eins zu eins übernehmen. Ja, das wäre eine Umgewöhnung für die Zuschauer und ein Risiko für die ARD, falls die anderen Sender doch nicht mitziehen.
Kinder wissen gar nicht, was analoges Fernsehen ist
Es ist aber auch eine veraltete Logik. Immer mehr Menschen schauen TV nicht mehr linear. Meine Kinder wissen gar nicht, was analoges Fernsehen ist und wie das geht. Sie schauen, wie viele Jüngere, die Sendungen wann immer sie wollen in der Mediathek oder auf YouTube.
[etd-related posts=“4277931″]
Ohnehin empfinde ich die Diskussion als typisch deutsch: Alles soll so bleiben, wie es immer schon war. Wer langfristig überleben will, braucht Mut zur permanenten Neuentwicklung. Eine auf 30 Minuten verlängerte „Tagesschau“ könnte ein Gegenangebot zu den News-Häppchen bei Social Media sein, ein Stück Qualitätsjournalismus. Für alle anderen gibt es ja schon die sehr beliebte „Tagesschau in 100 Sekunden“.
Meine Prognose: Die Bedenkenträger in der ARD werden sich am Ende durchsetzen. Aber wir haben zumindest mal darüber geredet. Und vielleicht werde ich ja doch noch einmal von der alten Tante überrascht.
Über den Autor:
Alexander Teske hat 21 Jahre lang als Redakteur für die ARD gearbeitet, zuletzt sechs Jahre für die „Tagesschau“. Darüber hat er das Buch „Inside Tagesschau“ geschrieben, welches seit Wochen auf den Bestsellerlisten steht. Teske lebt als freier Autor in Hamburg.
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion