Nachahmung: Der natürlichste Weg, gutes Schreiben zu lehren – und zu lernen


„Du musst das Buch schreiben, das geschrieben werden will. Und wenn das Buch zu kompliziert für Erwachsene ist, dann schreibst du es eben für Kinder.“ (Madeleine L’Engle, 1918–2007) (Symbolbild) Foto: iStockphot/gorodenkoff
„Schreiben lernt man durch Nachahmung“, schrieb einst der große Schreibpädagoge William Zinsser (1922–2015) und erklärte:
„Studenten fühlen sich oft schuldig, wenn sie ihre Texte nach dem Vorbild anderer gestalten. Sie halten es für unethisch – was löblich ist. Oder sie befürchten, ihre eigene Identität zu verlieren. Es geht aber darum, dass wir uns schließlich über unsere Vorbilder hinausentwickeln; wir nehmen, was wir brauchen, legen dann diese Häute ab und werden zu dem, was wir sein sollen.“
In Zinssers Worten steckt viel Weisheit – sowohl für Schüler als auch für Lehrer. In meiner Erfahrung als Lehrer und Schreibtutor sind die besten Schreiber ausnahmslos diejenigen Schüler, die viel und gut lesen.
Da ist ein Gespür für Sprache, ein intuitives Verständnis für Sinn und Struktur, das man auf keine andere Weise bekommen kann als dadurch, dass man seine Nase in Bücher steckt. Dieses Gespür entwickelt sich ganz natürlich im Kopf des Schülers, der regelmäßig liest.
Umgekehrt ist dieses intuitive Verständnis bei Schülern, die nicht viel lesen, nahezu unmöglich zu reproduzieren. Weder Unmengen an Übungen noch Vorträge oder Vorlagen können diesen Mangel ausgleichen. Lesen ist wie Protein für den Muskelaufbau – notwendig für das Wachstum. Ohne eine reichhaltige Leseration werden wahrscheinlich der Lehrer und auch der Schüler einen Kampf auf verlorenem Posten führen.
Ein gewisses Maß an Schreibfertigkeit mag man allein durch Vorlesungen erlangen, doch es wird immer etwas ungelenk und schematisch sein. Die Schreibmuse ist eine strenge Göttin und belohnt in der Regel nur diejenigen, die die großen Meister unserer Sprache gelesen haben. Erst dann, und nur dann, wird die Muse den Stift des Schülers zum Singen bringen.
Universeller Lernansatz
Wir lernen alles durch Nachahmung. Der Geiger beobachtet, wie der Lehrer das Instrument und den Bogen im richtigen Winkel hält, und versucht es dann selbst. Die Schwimmerin schaut sich an, wie der Trainer den Schmetterlingsbeinschlag vorführt, und versucht es dann selbst. Kinder hören der Sprache ihrer Eltern zu und versuchen dann, sie mit unbeholfenem Gebrabbel zu wiederholen. Nach und nach spiegeln diese Nachahmungen das Vorbild genauer wider.
Warum also behandeln manche Bildungsansätze das Schreiben anders, so als ob es nur durch abstrakte Theorie oder durch das Befolgen willkürlicher Regeln gelernt werden könnte? Sicher, Regeln und Theorien helfen. Sie haben definitiv ihren Platz im Schreibunterricht. Aber sie können die bewusste Praxis, große Schriftsteller nachzuahmen, genauso wenig ersetzen, wie das Erlernen der Pferdeanatomie einen guten Reiter aus ihnen macht.
Um das Nachahmungsmodell umzusetzen, sollten Lehrer Folgendes tun:
Lesen, lesen, lesen
Zuallererst müssen Lehrer aus all den bereits genannten Gründen selbst viel lesen. Es ist eine gute Idee, mit einem Bleistift zu lesen und besonders schöne, überzeugende oder anderweitig wirksame Textpassagen zu markieren.
Anmerkungen und Unterstreichungen können dem Lehrer helfen, diese Passagen zu analysieren. Am wichtigsten ist, dass diese Passagen, die man hier und da im normalen Leseverlauf findet, die Grundlage für Übungen im Unterricht oder für Hausaufgaben bilden können.

„Ich hatte einen so furchtbar aufgestauten Lesehunger, dass es ein Wunder ist, dass ich mich nicht totgelesen habe, wenn ich Bücher in die Hände bekam.“ (Astrid Lindgren, 1907–2002) (Symbolbild) Foto: iStockphoto/Dejan_Dundjerski
Abschreiben und Diktat
Anspruchsvolle Texte, die nicht viel länger als ein Absatz sind, kann der Lehrer im Klassenzimmer laut vorlesen und die Schüler bitten, sie aufzuschreiben. Diese Diktatübung bringt die Schüler dazu, wirklich auf den Klang der Sprache zu hören und diese schönen Wörter auf intuitive Weise durch den Akt des Schreibens körperlich zu verinnerlichen. Die Worte werden so Teil dieser Person und verbinden sich mit ihren Nervenbahnen im Gehirn und den Muskelfasern des Körpers.
Eine ähnliche Übung könnte darin bestehen, dass der Schüler die Passage einfach durch Abschreiben kopiert, obwohl ich denke, dass das auditive Element beim Diktat hilfreich sein kann, da gutes Schreiben ein Gespür für den Klang erfordert.
In beiden Fällen imitiert der Schüler die Worte des großen Autors genau – so als könnte eine Tänzerin für einen Moment in den Körper ihrer Lehrerin schlüpfen und die korrekten Bewegungen der Arme und Beine erspüren.
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Lückentextübung
Eine zweite und wahrscheinlich unterhaltsamere Übung führt die Kreativität der Schüler ein wenig in den Prozess ein. Für diese Übung können Lehrkräfte wieder eine Passage aus einem großartigen Buch oder Essay als Ausgangspunkt nehmen.
Durch Entfernen bestimmter Wörter oder Phrasen wird eine Art Lückentextübung erstellt, wobei die Lücken mit der Wortart gekennzeichnet sind, die der ursprünglichen Formulierung des Autors entspricht.
Nun lesen die Schüler die Passage und schreiben sie neu, indem sie eigene Worte in die Lücken einfügen. Auf diese Weise folgen sie weiterhin der Struktur, dem Tonfall, der Satzlänge und so weiter des Modelltextes, aber sie beginnen, mit ihren eigenen Worten zu spielen.
Überarbeitung nach Stil
Einen Schritt weitergehend könnte der Lehrer die Schüler eine Modellpassage lesen lassen und sie dann bitten, diese Passage in ihren eigenen Worten komplett neu zu schreiben. Allerdings sollen sie dabei den Stil des Originalautors beibehalten.
Das ist wirklich eine Herausforderung. Die Schüler müssen darüber nachdenken, welche besonderen Merkmale den Stil des Autors kennzeichnen. Verwendet er lange oder kurze Sätze? Ist die Sprache eher formell oder informell? Benutzt er Metaphern, Vergleiche, Alliterationen? Welchem Rhythmus folgt er?
Der Lehrer muss möglicherweise einige Hinweise zu diesen Punkten geben, bevor er die Schüler dazu anregt, ihre eigenen Nachahmungstexte zu verfassen. Diese können dasselbe oder ein ähnliches Thema wie die Vorlage behandeln. Sie könnten aber auch ein völlig anderes Thema aufgreifen, solange der Stil des Originals beibehalten wird. Das hängt davon ab, welche Aspekte des Originaltextes der Lehrer besonders betonen möchte.
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Die Balance finden
Diese Arten von Übungen erfüllen den Geist der Schüler nicht nur mit einem Repertoire großartiger Schriftsteller und deren Worte. Sie können auch unterhaltsamer und sinnvoller sein als die Standardschreibübungen, die man heute häufig in der Schule verwendet.
Die Kunst der Nachahmung und der Unterricht über formale Aspekte des Schreibens wie Absatz- und Aufsatzstruktur, Grammatik, Zitate und so weiter schaffen gemeinsam ein exzellentes Umfeld für die Entwicklung literarischer Fähigkeiten.
Durch Nachahmung bekommen die Schüler ein Gespür dafür, was beim Schreiben funktioniert. In Vorlesungen wird ihnen dann beigebracht, warum sich diese oder jene Technik anwenden lässt.
Ich habe festgestellt, dass diese Kombination aus praktischem, erfahrungsbasiertem und theoretischem Lernen eine wunderbare, sich ergänzende Grundlage schafft.
Der Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel „Imitation: The Most Natural Way to Teach Good Writing“. (Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung sm)
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