Einsamkeit: „Wegsehen ist so einfach“

Von Einsamkeit Betroffene gibt es durch alle Gesellschaftsschichten und in jedem Alter. Oft braucht es nur einen kleinen Schritt, um Veränderungen zu bewirken. Epoch Times war im Gespräch mit der Einsamkeitsbeauftragten von Berlin-Reinickendorf, Katharina Schulz.
Titelbild
Ob für alte oder junge Menschen: Wo Gemeinschaft anfängt, da endet die Einsamkeit.Foto: shironosov/iStock
Von 20. Juli 2025

„In Berlin ist inzwischen jeder zehnte Einwohner von Einsamkeit betroffen, sodass Berlin bereits als ‚Hauptstadt der Einsamkeit‘ bezeichnet wird.“ So zu lesen auf der Website des Bezirksamts Reinickendorf von Berlin.

Anfang des Jahres 2024 führte dieser Bezirk bundesweit als erste Kommune eine Vollzeitstelle für eine Einsamkeitsbeauftragte ein. Denn Einsamkeit betrifft viele Menschen. Es sei altersunabhängig, einkommensunabhängig, geschlechtsunabhängig, sagt Katharina Schulz, die diese Aufgabe seit Juli 2024 ausfüllt.

Guten Morgen, Frau Schulz. Sie sind Einsamkeitsbeauftragte vom Bezirk Reinickendorf. Sie sind aktuell die Einzige in ganz Berlin oder gar ganz Deutschland?

Ja, ich bin tatsächlich die Einzige. Ich glaube, deutschlandweit gibt es diesen Posten noch einmal in Brandenburg. Dort ist das Pendant von mir eine Sozialarbeiterin. Sie ist für die Menschen vor Ort da. Das ist nicht meine Aufgabe. Ich vernetze, schaffe Strukturen, bin für übergeordnete Maßnahmen zuständig.

Warum gerade in Reinickendorf?

Tatsächlich ist Reinickendorf deutschlandweit Vorreiter. Wir haben auch viele Anfragen aus anderen Ländern. Das Interesse ist sehr stark.

Ich glaube, das liegt tatsächlich an unserer Bürgermeisterin Emine Demirbüken-Wegner. Sie hat schon damals, als sie Mitglied des Abgeordnetenhauses (MdA) war, das Thema Einsamkeit bearbeitet und viel in Vorleistung dafür getan. Als sie dann hier Bürgermeisterin wurde, hat sie diesen Posten geschaffen, den sie schon seit zehn Jahren fordert.

Diese Vorarbeit hat meine Arbeit sehr erleichtert: die Strukturen, die Netzwerke, die Sensibilisierung von Einrichtungen, von anderen Abteilungen, fachübergreifend. Ich arbeite mit allen Kollegen hier zusammen, sei es im Fachbereich Gesundheit, Soziales, Senioren oder Jugend. Denn es ist ein Querschnittsthema.

Man könnte geradezu sagen, es ist etwas Verbindendes?

Ja, leider. Ich bin ein positiver Mensch und es ist ein sehr trauriges Thema. Aber ich glaube, von meinem Wesen her sehe ich statt des Problems immer die Lösungen und probiere, den Menschen Mut zu machen, die Lösungen zu sehen, die Angebote wahrzunehmen.

Was ist so schlimm an Einsamkeit?

Man muss ja zwei Sachen unterscheiden. Alleinsein ist nicht schlimm. Alleinsein kann kreativ, kann schöpferisch, kann befreiend sein. Manche Menschen sehnen sich nach dem Alleinsein, nach Stille, nach Ruhe. Wir reden aber nicht von diesem Problem, sondern von Einsamkeit.

Das ist nicht selbstbestimmt. Man wird da reingezogen, leise und still und kommt selbst nicht mehr heraus. Es ist ein schmerzhaftes Gefühl. Das Gefühl, man wird nicht gebraucht, wird nicht gesehen. Man wird nicht gehört, man wird nicht geliebt.

Wenn das chronisch wird, so sagen Ärzte, hat das psychische Folgen: Depressionen, Angstzustände, Suchtgefühle bis hin zum Suizid. Bestehende Krankheiten werden verschlimmert, die Menschen verwahrlosen. Es erhöht die Sterblichkeitsrate. Es gibt Forschungsergebnisse, die sagen, chronische Einsamkeit ist schädlicher als 15 Zigaretten am Tag zu rauchen. Das ist das Problem.

Wo setzten Sie an?

Wir setzten mit Präventionsmaßnahmen an. Wir arbeiten mit Ärzten und Einrichtungen zusammen. Denn die Leute wollen da raus. Sie wollen nicht mehr einsam sein.

Wir machen beispielsweise ein Einsamkeitsessen an Weihnachten. In diesem Jahr planen wir um die 100 Gäste. Schon im letzten Jahr gab es Menschen, die mir gesagt haben: „Es ist das erste Weihnachten seit sechs Jahren, das ich nicht alleine zu Hause verbringen muss.“ Das ist wirklich heavy.

Mit diesem Logo sind die Anlaufstellen markiert. Alle Kooperationspartner, die sensibel für dieses Thema sind, wie Cafés mit den Plaudertischen, Stadtteilzentren, Nachbarschaftsetagen, Seniorenfreizeiteinrichtungen, Glaubens- und Religionsgemeinschaften, führen an ihren Einrichtungen den QR Code. Foto: Bezirksamt Reinickendorf

Was hören Sie häufig von den Leuten?

Es ist ein Tabuthema, daher ist es wie ein Outing. „Ich bin davon nicht betroffen. Ich frage für eine Freundin, was kann ich ihr raten?“, sagen viele.

Ganz oft natürlich höre ich: Ich habe niemanden.

Doch die Menschen wollen gehört werden und am Telefon geht das für viele einfacher, weil sie dann den Mut haben zu sprechen. Manche schreiben auch nur Mails und fragen: Was kann ich dagegen tun?

Seitdem Einsamkeit thematisiert wird, höre ich von sozialen Einrichtungen, Trägern, Organisationen, dass die Menschen zunehmend den Mut haben, in die Einrichtungen zu gehen und zu sagen: Ich bin einsam, ich suche Anschluss. Das ist ganz wichtig, um den Menschen helfen zu können.

Haben Sie eine Idee, warum Einsamkeit in den letzten Jahrzehnten zugenommen hat?

Ich glaube nicht, dass es unbedingt zugenommen hat. Das Thema war schon immer da. Es gab schon immer einsame Menschen. Ich glaube, in der Großstadt ist das Problem ein wenig größer, weil es doch viel anonymer und hektischer ist: Man wohnt zehn Jahre nebeneinander und weiß nicht mehr, wie der nebenan heißt.

Es ist ein gesellschaftliches Gesamtproblem, weil das Individuum immer mehr unter Leistungsdruck steht. Die Digitalisierung trägt dazu bei. Corona war ein immenser Beschleuniger, was Einsamkeit angeht, auch bei Jugendlichen.

Es ist paradox. Wir werden immer mehr. Die Besiedelung wird immer dichter und trotzdem fühlen wir uns immer einsamer. Das ist komisch, was? Doch es gibt viele, viele Gründe, warum man überhaupt in Einsamkeit reinrutscht.

Es kann der Wechsel eines Arbeitsplatzes, der Schule oder eine neue Universität sein. Man kommt am neuen Wohnort an, aber man kommt nicht richtig an, man muss sich erst mal wieder zurechtfinden und eine Gemeinschaft aufbauen.

Oder meine Freundin – sie hat vor zwei Jahren ihren Mann verloren – von einem auf den anderen Tag. Sie hat zwei kleine Kinder, fünf und vier und dazu noch zwei ältere, die sind gerade 18 geworden. Sie musste noch als Mutter weiter funktionieren. Das hat alles super geklappt – bis die Kinder geschlafen haben und die Einsamkeit kam. Dann hat sie mich angerufen: „Ich brauche einfach jemanden zum Reden. Normalerweise wäre mein Mann…“

[etd-related posts=“5035982″]

Das sind genau die Aufgaben, die früher eine funktionierende Dorfgemeinschaft oder eine religiöse Gemeinschaft übernommen hat. Sie sagten vorhin, Sie haben auch die Kirchen mit ins Boot geholt. Haben Sie Resonanz bei den Kirchen gefunden?

Ja. Auf jeden Fall. Wir haben eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, die sich AG Einsamkeit Exit nennt. Dort sind alle großen Verbände vertreten. Wir haben die evangelische Kirche, die katholische Kirche, die großen Mobilitätshilfedienste, und wir tauschen uns aus.

Man muss erst mal sehen, was haben wir an Angeboten? Wer macht mit? Das ist eine gemeinschaftliche Aufgabe.

Wie bekommen Sie den Kontakt zu den Leuten, die Ihre Ideen in die Praxis umsetzen?

Wir haben eine gute Vernetzung. Es gibt ganz viele Spezialisten, soziale Träger, die genau das machen. Als Beispiel die Berliner Hausbesuche. Das ist ein Programm, das schon seit Jahren besteht.

[etd-related posts=“5074843″]

Wie kontaktieren Sie die jungen Leute?

Über die Schulen. Das ist ganz wichtig. Letztes Jahr hatten wir den Fokus auf Einsamkeit bei Senioren gesetzt. Für diese Zielgruppe waren dann andere soziale Träger für uns relevant. Aber wir haben da auch schon die Schulen mit ins Boot geholt, weil wir finden, dass das Thema von beiden Seiten beleuchtet werden muss.

Sie [die Schüler] waren dann in einem Seniorenwohnheim und haben mit alten Menschen gesprochen. Sie sind spazieren gegangen miteinander, wurden zum Thema Einsamkeit sensibilisiert. Am nächsten Tag waren sie bei unserem Einsamkeitsgipfel, eine jährliche Fachtagung zum Thema Einsamkeit, in der wir Wissenschaft und Praxis vereinen.

Bürger können kommen und sich an Infoständen beraten lassen.

Für dieses Jahr haben wir die Fokusgruppe Jugend und die Senioren kommen zu den Jugendlichen, um über deren Einsamkeit zu sprechen.

Bei Jugendlichen geht es um die digitale Welt, die eine Scheinwelt ist. Man hat zwei Millionen Follower, es sieht alles perfekt aus. Doch geht das Handy aus, merkt man, da ist gar niemand. Wir wollen natürlich die Kinder und Jugendlichen da rausholen. Es ist teilweise gar nicht schwer.

[etd-related posts=“4974067″]

Inwiefern nicht schwer?

Ich bin immer lösungsorientiert. Ich glaube, wo Gemeinschaft anfängt, da endet die Einsamkeit. Wir haben so viele tolle Möglichkeiten, beispielsweise über das Ehrenamt. Ein Ehrenamt zu bekleiden, schafft auch ganz viel gegen Einsamkeit.

Zum einen kann man einsamen Menschen durch das Ehrenamt helfen – denken Sie an Besuchsdienste – und gleichzeitig kann einsamen Menschen durch ein Ehrenamt wieder ganz viel Sinn im Leben entstehen, weil es einem so viel zurückgibt.

Man fühlt, dass man gebraucht wird und das erzeugt Selbstwert. Daher sehe ich sehr viel Sinn, diese beiden Fachaufgaben – bürgerschaftliches Engagement und Einsamkeitsprävention – in meiner Person zu bündeln.

Eine ideale Kombination?

Aus meiner Sicht schon. Es lag nahe, weil beides sehr querschnittslastig ist. Beim Thema Jugendliche gibt es das Thema kulturelle Angebote, Bildungsmöglichkeiten, aber auch Sport.

Mit Sport holt man viele Jugendliche aus der Einsamkeit raus, weil es in der Gemeinschaft verbindet.

[etd-related posts=“5174653″]

Sportangebote gibt es bei vielen Vereinen. Worin besteht Ihre Aufgabe?

Es geht darum aufzuzeigen, wie vielfältig die Möglichkeiten sind und dass sie [die Jugendlichen] den Mut haben, den nächsten Schritt zu gehen.

Ich habe auch mit vielen Studentinnen und Studenten gesprochen. Sie sagten, als sie den ersten Schritt gemacht hatten und darüber sprachen, haben sie gemerkt, es geht ganz vielen anderen auch so! Vorher war das nie ein Thema.

„Wie? Du bist Jugendlicher und bist einsam?“ Das ist komisch für die meisten.

[etd-related posts=“4544442″]

Mit was sind wir als gesamte Gesellschaft gefordert?

Achtsamkeit, man muss die Achtsamkeit gegenüber anderen wieder entwickeln. Man muss hinschauen und nicht wegsehen.

Es reichen ganz kleine Sachen. Mal im Hausflur zu fragen: „Wie geht es dir?“ Ein freundliches „Guten Morgen“. Das war früher selbstverständlich, doch in Großstädten fehlt das. Sich wahrnehmen, einfach sich gegenseitig wahrnehmen.

Vielleicht auch mal der Nachbarin, die jedes Mal das Paket entgegennimmt, einen Kuchen backen und Danke sagen. Sich mal kurz mit ihr hinsetzen, das hilft. Gemeinschaft. Jeder kann Teil der Lösung sein. Und das braucht nicht viel.

[etd-related posts=“5140976″]

Gibt es etwas, was Sie sich konkret für Ihren Arbeitsauftrag wünschen, wo es hingehen soll in Zukunft?

Es braucht einen gesellschaftlichen Wandel. Es braucht ein Umdenken. Es braucht mehr Achtsamkeit. Es braucht eine Verankerung des Themas auf oberster Ebene. Dass es wahrgenommen wird, denn es werden auch viele Kosten durch chronische Einsamkeit entstehen – auch den Krankenkassen.

Wir kriegen sehr viel positives Feedback von anderen Gemeinden, die sagen: „Wir haben das Problem in unserer Gemeinde auch erkannt und wollen etwas dagegen tun.“ Das ist schon mal schön. Damit wird es besprechbar und hilft so der Enttabuisierung und Stigmatisierung.

Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Schulz.

Katharina Schulz ist nicht nur Einsamkeitsbeauftragte, sondern auch für das bürgerschaftliche Engagement zuständig. Foto: Silke Ohlert/ Epoch Times

 



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion