Graffiti: Vandalismus oder Kunst?

Graffitis in deutschen Städten: Für die einen sind die Sprühaktionen an Häuserwänden und Bäumen moderne Kunst oder eine erlaubte Protestform gegen die Politik im Land, für andere stellen sie eine strafbare Sachbeschädigung dar. Zu den Hintergründen und der Diskussion über die Sprayerszene.
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Graffiti-Entfernung (Archiv)Foto: via dts Nachrichtenagentur
Von 22. Juli 2025

In Erinnerung an den Schriftsteller Heinrich Böll drängt sich die Analogie auf: Wanderer, kommst du nach Tübingen, dann staunst du über eine farbenfrohe historische Altstadt: Graffitis auf Sandsteinwänden und Fachwerkbalken jahrhundertealter Häuser ebenso wie an der Stiftskirche aus dem Jahr 1490, am Rathaus und entlang von Häuserzeilen moderner Wohnblocks.

Auch Bäume im Park oder Haltestellen des öffentlichen Nahverkehrs sind munter besprüht, mal mit unverständlichen Szene-Tags, mal mit gesellschaftskritischer Agitprop oder einfach nur mit Farbkringeln, hinter denen keine andere Bedeutung zu stecken scheint, als sie einfach an beliebiger Stelle hinzusprühen.

Tübinger OB Palmer: Alle Graffiti-Sprüher sind „Bastards“

Wahrlich, die kleine baden-württembergische Universitätsstadt Tübingen kann es auf dem Gebiet der Streetart und Graffiti-Gestaltung mit jedem Berliner Kiez aufnehmen. Doch der parteilose Oberbürgermeister Boris Palmer ist über die Sprayerszene in Tübingen verärgert. Seit dem Jahr 2023 setzt er auf die Ergreifung eines „Graffiti-Täters“ 5.000 Euro Belohnung aus und fordert die Bevölkerung auf, Hinweise an die Polizei zu melden.

„Es ist die einzige Chance, diese Angriffe abzuwehren. Offenbar ist diesen Leuten nichts mehr heilig“, wird Palmer vom SWR zitiert. „Es braucht eine entschlossene Reaktion der Stadtgesellschaft – jedes Verständnis ist hier fehl am Platz.“

Der Oberbürgermeister brachte im Dezember 2023 seinen Zorn über die „bis in 5 Metern Höhe angebrachten Schmierereien“ in einem Instagram-Beitrag überdeutlich zum Ausdruck.

Prompt bekam Palmer Gegenwind aus der Szene, etwa mit einer langen Stellungnahme von Graffiti Lobby Berlin aus der deutschen Hauptstadt. Darin wird dem Tübinger Oberbürgermeister ein Verhalten „wie in der DDR“ vorgeworfen. Und unter Verweis auf die 17.000 Jahre alten Höhlenmalereien von Lascaux machen die Berliner Graffiteers Palmer darauf aufmerksam, dass diese heute „doch zum UNESCO-Weltkulturerbe“ zählen.

Subversive Aktionskunst

Tübingen sowie die dortige Diskussion über Graffitis im öffentlichen Raum stehen exemplarisch für die Beurteilung der Sprayer-Hinterlassenschaften weltweit. In England gibt es etwa einen Graffiti-Sprayer, der inzwischen in der Kunstwelt hohe Aufmerksamkeit erfährt. Er betätigt sich wie in der Szene üblich anonym und trägt das Tag-Pseudonym Banksy.

Die Hamburger Manufaktur URBAN Kunst! schreibt über den „Streetart-Künstler“: Banksys Stil sei „geprägt von politischen und gesellschaftskritischen Botschaften, die er oft auf öffentliche Wände sprüht“. Allerdings lasse er unter Wahrung seiner Anonymität auch „Kunstwerke“ auf Leinwand oder anderen Materialien in Museen und Galerien präsentieren.

Mit Graffiti-Sprühen hat der Engländer in den 1990er-Jahren in der Stadt Bristol begonnen und mit Schablonen einen eigenen Stil gesetzt. Eine seiner bekanntesten Szenen sei der „Flower Thrower“ – ein Mann, der aussieht wie ein Demonstrant aus der linksalternativen autonomen Szene. Statt eines Gegenstandes wirft er aber einen Blumenstrauß. Die Auslegung dieser als „subversive Aktionskunst“ genannten Szene bleibt den Betrachtern überlassen.

Motivation: Zwischen Ruhmsucht und Hass

Auf Banksy berufen sich viele Graffiti-Sprayer weltweit und beharren darauf, dass dies eine legitime Kunstform für jene sei, die sich kein Malerstudio und keinen Galeristen leisten können. Doch diese Argumentation ist zu flach und hält wissenschaftlichen Untersuchungen nicht stand. Eine Studie des Psychologischen Instituts der Universität Potsdam aus dem Jahr 2003 – die bis heute als maßgeblich zitiert wird – benennt sehr unterschiedliche Motivationen für die willkürliche Nutzung von Häuserwänden, Brücken, Bahnwaggons und Parkbäumen.

Die Psychologen befragten 294 Sprayer und stellten daraufhin sieben „Anreizdimensionen“ fest. An erster Stelle stand „Expertise/Kompetenzorientierung“. Das heißt, Sprayer sprayen, um jedes Mal „besser zu werden als vorher“.

Als weiterer Grund für illegales Sprayen wurde angegeben: Dadurch gewinne man „positive Emotionen“ oder einen sogenannten Flow. Auch Lust auf „Kreativität“ und „Ruhm“ in der Szene spielt eine Rolle sowie Gruppengefühl, Lebenssinn und die Suche nach Grenzerfahrungen, das sogenannte „Sensation Seeking“.

Eine kleine Anzahl der Befragten gestand außerdem, dass es ihnen um „Provozieren“ gehe. Wörtlich: „Der Stadt so richtig ins Gesicht hauen“, „einfach nur kaputtmachen, die Wut ausleben“, „Schaden anrichten, den der Staat bezahlen darf“ und „etwas zu tun, was der Großteil der Bevölkerung nicht versteht und hasst“. Dazu gehören etwa die „Tags“, das sind wirre Kennzeichen der Sprayer, mit denen sie entweder ihre „Kunstwerke“ markieren oder die dazu genutzt werden, öffentlich zugängliche Flächen zu schädigen.

Jung, risikobereit, todesmutig

Mit zunehmendem Alter nimmt die Lust auf Grenzerfahrungen ab. Es gebe „kaum illegale Sprayer, die älter als 21 Jahre sind“, heißt es in der Potsdamer Studie. Da es sich also weit überwiegend um Jugendliche handelt, die bereit sind, lebensgefährliche Risiken einzugehen, um ihre Tags zu hinterlassen, kommt es immer wieder zu tragischen Unfällen.

Etwa im Jahr 2016: In Berlin-Wilhelmsruh wurden zwei Graffiti-Sprayer im Alter von 18 und 19 Jahren 5 Minuten nach Mitternacht von der S-Bahn erfasst und getötet. Drei Jahre zuvor starb ein 15-jähriger Graffiti-Sprayer am zweiten Weihnachtsfeiertag durch Stromschlag auf dem Berliner Güterbahnhof Weißensee. Er war Teil eines Trios, das abgestellte Güterwaggons bemalen wollte.

Im Juli 2010 wurde eine Gruppe jugendlicher Graffiti-Sprayer im brandenburgischen Rathenow von einem ICE erfasst, wobei ein Junge ums Leben kam. Im selben Jahr ereignete sich ein ähnlicher tragischer Vorfall in Dormagen. Zwei Teenager beabsichtigten, auf dem Bahngelände Waggons zu besprühen. Ein 19-Jähriger wurde von einem Güterzug gestreift und kam dabei ums Leben. Die Liste ließe sich fortsetzen, aber insgesamt sind diese Risikotodesfälle seltene Ausnahmen.

Bevorzugtes Ziel: Deutsche Bahn

Die Deutsche Bahn (DB) und städtische Verkehrsbetriebe sind bevorzugte Ziele von Graffiti-Sprayern, da mit den Zügen und Bussen, deren Graffitis und Tags in ganz Deutschland beziehungsweise stadtweit bekannt werden. Die Bahn warnt die Graffiti-Sprayer mit zahlreichen Beiträgen auf ihrer Website: „Was viele nicht wissen: Sprayer werden strafrechtlich verfolgt. […] Von Kindern ab dem siebten Lebensjahr kann man noch bis zu 30 Jahre nach der Verurteilung Schadensersatz fordern“, droht die Bahn. Im Jahr 2023 musste die DB nach eigenen Angaben 12 Millionen Euro für die Beseitigung der Graffitis ausgeben.

Seit einem Jahr setzen die Bahn und die Berliner S-Bahn auf eine neue Technik: mit Spraydosen gegen Graffiti. Ein Maler übersprüht einfach „die Schmierereien im Innenraum“ der S-Bahnwaggons, gibt die DB-Pressestelle bekannt.

Strafverfolgung mit Roboterhund und Hubschrauber

Ebenfalls im vergangenen Jahr testete die Bahn in München einen Monat lang den Einsatz eines Roboterhundes gegen Graffiti. Der vierbeinige, 25 Kilogramm schwere Roboter patrouillierte eigenständig durch die Abstellanlagen der S-Bahn und sollte mithilfe von Künstlicher Intelligenz unbefugte Personen oder andere Unregelmäßigkeiten erkennen, teilte die Bahn damals mit.

Doch der Roboterhund, der laut Bahn einen fünfstelligen Eurobetrag kostet, erkannte keinen einzigen Sprayer während der Pilotstudie. Denn es gab keinen Fall von Graffiti, was möglicherweise auf die abschreckende Wirkung zurückzuführen ist. Und so führen die bisherigen Fahndungsmethoden gelegentlich immer noch zum besten Erfolg. Im Juni 2024 jagte ein Münchner Polizeihubschrauber zwei S-Bahn-Sprayer und konnte sie festnehmen.

Straftat als Hobby

Bundesweit sei die Zahl der Graffiti-Delikte bei der Bahn gestiegen – von 15.850 auf nun 16.600, berichtete Ende Dezember 2024 der „Bayerische Rundfunk“. Berlin lag auf Platz eins, gefolgt von München. Dass das Anbringen von Graffitis kein Kavaliersdelikt ist, hat bereits der Bundestag im Jahr 2005 klargemacht.

Seither gibt es das sogenannte „Graffiti-Bekämpfungsgesetz“ (Neununddreißigstes Strafrechtsänderungsgesetz), das eingeführt wurde, um Graffiti als Sachbeschädigung zu verfolgen und zu bestrafen. Konkret wurden dafür die Paragrafen 303 und 304 des Strafgesetzbuches (StGB) angepasst.

Warum laufen dennoch alle Strafandrohungen weitgehend ins Leere? Die Potsdamer Studie gibt darauf möglicherweise eine Antwort. Dort heißt es: „Legal malen langweilt auf Dauer. Jeder Maler, der illegal begonnen hat und davon abkommt, kehrt irgendwann wieder zum illegalen Graffiti zurück.“ Oder er wird 21 Jahre alt und hat keine Zeit mehr für nächtliche Ausflüge in der Stadt oder zu Bahnhöfen.



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