Jakob Schirrmacher: „Warum wir ein Recht auf Lügen haben“

Der Journalist und Autor Jakob Schirrmacher hat mit „Desinformiere dich!" eine lesenswerte Streitschrift veröffentlicht, die er als philosophisch-politische Analyse eines Kulturkampfes um den Begriff Wahrheit sieht.
Titelbild
Das Problem von Desinformation und Propaganda ist so alt wie das Bestehen von Konflikten selbst.Foto: iStock/SIphotography
Von 7. Juni 2025

„Was genau ist Desinformation? Die offizielle Definition lautet meist: gezielte Verbreitung falscher oder irreführender Informationen mit dem Ziel, die öffentliche Meinung zu manipulieren. Doch was bedeutet ,gezielt‘? Wer entscheidet, was ,falsch‘ ist? Und was ist mit Informationen, die als falsch gelten, aber später als wahr erkannt werden – oder umgekehrt?“

In wenigen Sätzen stellt der Journalist, Autor und Dozent Jakob Schirrmacher in seiner Streitschrift „Desinformiere dich!“ die Krux eines Themas dar, das in zunehmendem Maße den gesellschaftlichen Diskurs beeinflusst. 

Alles könnte Desinformation sein

Desinformation ist Teil unseres Alltags im postfaktischen Zeitalter geworden. Deutlich spürbar wurde dies spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie vor fünf Jahren. Schlagartig waren Ansichten zur Erkrankung oder zu Maßnahmen, die sich nicht im Einklang mit den staatlichen Narrativen befanden, Desinformation. Die „Fake News“ schlichen sich in unseren Sprachschatz ein. Wer solche verbreitet, bestimmt der Staat und nachgelagerte Faktenprüforganisationen. So werden Kritiker aus der öffentlichen Wahrnehmung ausgeblendet oder diffamiert. Einfaches Beispiel: Wer sich für Frieden mit Russland einsetzt, wird nunmehr rechts verortet.

Schirrmacher nennt das die Verschiebung vom Diskurs zum Dispositiv. So steht nicht mehr das Gesagte im Mittelpunkt, sondern wer spricht, „mit welchem Netzwerk, mit welchem Motiv“. Aus seiner Sicht entsteht dadurch eine „paranoide Struktur“, denn alles könnte Desinformation sein. Abweichende Meinungen, alternative Links, kritische Nachfragen – alles könnte Teil einer „Kampagne“ sein.

Dies zeigt, in welcher prekären Situation wir uns befinden. Was ist Wahrheit, was Lüge, was Propaganda, was ist Desinformation? Schirrmacher fordert daher eine „agonistische Öffentlichkeit“. Es handelt sich dabei um eine Arena, die den Wettstreit der Ideen zum fundamentalen Bestandteil der Gesellschaft erhebt. Das Konzept dazu basiert auf den Thesen der belgischen Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe. Dabei gelten Meinungsverschiedenheiten nicht etwa als störende Hindernisse. Vielmehr sind sie wichtige Bestandteile in einer Demokratie.

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Die Agonie der Meinungsvielfalt

Von einer agonistischen Öffentlichkeit sind wir derzeit weit entfernt. Wortverwandt mit agonistisch ist die Agonie, der Todeskampf des Menschen, seine letzten Momente, bevor er stirbt. Ähnlich verhält es sich mit der Meinungsfreiheit. Sie wird längst zu Grabe getragen. Wer dem politisch Korrekten nicht folgen will, ist der Desinformation verdächtig und wird geächtet. Das alles erinnert mitunter an mittelalterliche Hexenjagd. Die Inquisitoren der Gegenwart arbeiten statt mit Daumenschrauben und Streckbank mit Diskreditierung, sozialer Ausgrenzung und Gerichtsverfahren.

Jakob Schirrmacher, Sohn des 2014 verstorbenen Journalisten und jahrelangen Mitherausgebers der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, Frank Schirrmacher, macht in seiner Streitschrift deutlich, dass es sich bei der staatlichen Bekämpfung der Desinformation um eine globale Entwicklung handelt. Er nennt Länder wie Australien oder Brasilien, in denen sogenannte Desinformation teils drastisch bestraft wird.

Das, so schreibt er weiter, führt zu einem Selbstzensureffekt. Man überlegt sich zweimal, ob und wie man sich äußert. Statt rechtsstaatlicher Klärung frage man sich: „Gehe ich das Risiko eines Prozesses ein – oder schweige ich besser?“ Die Folgen: kritische Berichte, künstlerische Freiheit und politische Opposition stumpfen schnell ab.

Alles wird moralisiert

Der Begriff der Desinformation wird zunehmend in einen moralischen Kontext gestellt. Wir erlebten das während der Corona-Pandemie in massivem Ausmaß. Wer den Narrativen der Regierung nicht folgen wollte, war unsolidarisch, ein Corona-Leugner und müsste „konsequent dem rechtsextremistischen Spektrum zugeordnet werden“ – so Thüringens Innenminister Georg Maier im Juni 2022.

Diskussionskorridore wurden früh geschlossen. Ein anonymer Mitarbeiter des WDR schrieb auf der Website „Meinungsvielfalt.jetzt“ über ein Gespräch mit dem damaligen Intendanten Tom Buhrow:

Eine Hörerin monierte sehr höflich, dass immer die gleichen Wissenschaftler und Experten im Programm auftauchen. Sie wünschte sich mehr Meinungsvielfalt, besonders bei Corona-Themen. Buhrows Antwort war sehr erhellend, weil er dem Eindruck der Hörerin widersprach und sinngemäß antwortete, dass ja auch die Aussagen des Virologen Streeck im Programm abgebildet werden. Wenn Drosten aber auf der Liste der erlaubten Meinungen ganz weit oben steht und Streeck offenbar das unterste Ende markiert wie ist es dann um Meinungsfreiheit und Pluralismus bestellt?“

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Heute ist vieles an Corona-Maßnahmenkritik belegt, unter anderem durch die geleakten RKI-Protokolle. Doch das Instrument der Moralkeule ist geblieben und weiterhin erfolgreich. Ob Ukraine-Krieg, Gaza, Klimawandel oder Gender es gibt nur noch schwarz oder weiß, die differenzierte Meinung ist von einer Empörungskultur erstickt worden.

Ein Großteil der Bevölkerung macht dabei mit. Denn böse möchte doch keiner sein, nicht gegen das Leben, gegen die Zukunft unserer Kinder, nicht Oma und Opa für den eigenen Egoismus opfern.

Lügen als Teil der Meinungsfreiheit

Dabei haben wir durchaus das Recht, die Unwahrheit zu sagen. Dieser provokanten These widmet Schirrmacher ein ganzes Kapitel, in dem die Lüge als ein Teil der Meinungsfreiheit dargestellt wird.

Philosophen, Juristen und Publizisten „verschiedener Couleur“ stehen hinter dieser Forderung, die uns zu der Erkenntnis bringen soll, dass es äußerst fragwürdig wäre, „den Staat zum obersten Wahrheitswächter zu küren“. Dabei zitiert er den Philosophen und Journalisten Alexander Grau, der in einer „Cicero“-Kolumne (Bezahlschranke) unumwunden schrieb:

Lügen ist ein Menschenrecht.“

Schirrmacher, der sich der Förderung von Medienkompetenz und Jugendmedienbildung gewidmet hat, verweist auch auf den britischen Philosophen Glen Newey (1961–2017). Dieser argumentierte, dass „freie Meinungsäußerung nur vollständig existiert, wenn sie auch das Recht einschließt, Unwahrheiten zu verbreiten“. So hätten die „klassischen Verteidiger der Meinungsfreiheit“ wie John Stuart Mill, Voltaire und andere Aufklärer – „stets Inhalte schützen wollten, nicht nur die ,richtigen‘ Inhalte“. Eine Meinung, die uns falsch, gefährlich oder unmoralisch erscheine, müsse man aussprechen dürfen. Aus Neweys Sicht benötigt ein „lebendiges Diskursklima“ alle Informationen, auch wenn sie fehlerhaft sind.

Thema war Verlagen zu heikel

Mündige Bürger, freie Medien, eine kritische Wissenschaft – das sind für Schirrmacher die Pfeiler einer lebendigen Debattenkultur. Es scheint wie eine Bestätigung seiner Analyse, dass er sein Buch im Eigenverlag herausbringen musste. Den etablierten Verlagen war es thematisch „zu heikel“, berichtet er im Interview mit der „Berliner Zeitung“. Die Einschränkung der Meinungsfreiheit ist in Deutschland bereits real, kein subjektives Empfinden einzelner, wie es Wissenschaftsjournalistin Maren Urner in der Talkrunde bei Markus Lanz dargestellt hat.

Schirrmacher betont, dass es sich bei seinem Werk nicht um eine polemische Abrechnung einzelner Fehlentwicklungen handelt, sondern er versteht es als „philosophisch-politische Analyse eines Kulturkampfes um den Begriff der Wahrheit selbst“.

Die Streitschrift „Desinfomiere dich!“ gehört damit ohne Zweifel zu einem der wichtigsten politischen Bücher unserer Zeit. Empfohlen für alle, die sich (weiter) konsequent für den Diskurs, das Streitgespräch und die Meinungsvielfalt einsetzen.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.



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