Manipulation vermeiden – Radikalisierung verhindern

Niemanden ausschließen und das eigene Denken schulen sind Schlüsselpunkte für Frau Dr. Michas, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Epoch Times sprach mit ihr über die Radikalisierung Jugendlicher.
Titelbild
„Eine gute Kommunikation und eine gute Beziehung zum Kind zu haben, das ist das Wichtigste“, sagt die Fachärztin für Kinder und Jugendpsychiatrie, Dr. Roxana Michas. Symbolbild.Foto: Sneksy/iStock
Von 5. Juli 2025

Das Thema der zunehmenden Gewaltbereitschaft von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ist nicht neu. Doch die Ereignisse in Graz führen uns dies wieder in aller Härte vor Augen: Ein 21-jähriger ehemaliger Schüler des dortigen Bundesoberstufenrealgymnasiums erschießt ebendort zehn Menschen, bevor er sich selbst das Leben nimmt. Anders als bei dem Amoklauf 2002 in Erfurt sind die meisten Opfer Schüler.

Wir fragen Dr. med. univ. Roxana Michas, Fachärztin für Kinder und Jugendpsychiatrie, was die Ursachen für dieses immer extremer werdende Verhalten sein könnten und welche Chancen sie für eine Umkehr sieht.

Dr. Michas ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie, leitete zehn Jahre lang die Abteilung für Kinder und Jugendliche in einem Zentrum für psychische Gesundheit in Griechenland und war seit 2017 Oberärztin in der Kinder- und Jugendpsychosomatik und Psychiatrie des Kardinal Schwarzenberg Klinikums/Land Salzburg. Heute betreibt sie eine eigene Praxis zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen in Salzburg. 

Frau Dr. Michas, worin liegen Ihrer Meinung nach die Gründe, dass Jugendliche sich heute immer mehr radikalisieren?

Kinder und Jugendliche sind in einer Phase der Entwicklung und Persönlichkeitsbildung. Sie haben noch keine fundierte Meinung gebildet, sie sind leicht von anderen zu beeinflussen und sind auch sensibler. Es ist eine Phase, in der Pubertierende rebellieren dürfen. Aber es ist ein großer Unterschied zwischen Rebellieren und Extremismus.

Die Jugendlichen sind heutzutage aggressiver geworden, sowohl verbal als auch nonverbal – Mädchen und Buben. Auch die Mädchen können aggressiv werden, auch gegenüber anderen Mädchen. Und Mobbing passiert heutzutage sehr, sehr oft. Die Kinder und Jugendlichen, die zu mir kommen, haben oft Mobbingerfahrungen. Ja, es ist traurig, das sagen zu müssen.

Was sind typische Warnsignale dafür, dass sich ein junger Mensch radikalisiert?

Veränderungen im Verhalten, in der Stimmung, mehr Aggression oder Reizbarkeit als früher.

Ein Jugendlicher kommt nicht eines Tages plötzlich in die Schule mit einer Waffe. Es gibt schon Zeichen, die wir beobachten können: entweder in der Schule oder zu Hause in der Familie oder in der Nachbarschaft. Die Kinder oder Jugendlichen sind sehr gedrückt, sie nehmen nicht mehr an Aktivitäten in der Gruppe teil, sie isolieren sich von den anderen. Wenn man schon erlebt hat, geliebt zu werden oder selbst liebt, kann man andere Menschen nicht töten.

Es gibt auch Kinder, die viel internalisieren. Sie können leicht in der Familie oder von der Lehrkraft übersehen werden, weil sie so ruhig und unproblematisch wirken.

Lehrer können diese Veränderungen im Verhalten, in der Stimmung beobachten. Ich glaube, viele Lehrer sind heutzutage sensibilisiert dafür. Eine gute Kommunikation zwischen Eltern und Lehrkräften ist wichtig, ohne sich gegenseitig abzuwerten.

Was brauchen wir gesellschaftlich mit Blick auf die junge Generation?

Ich finde es sehr wichtig, dass die Menschen generell lernen, ein eigenes, kritisches Denken zu entwickeln. Wenn ein Kind das übt, kann es genau unterscheiden und auswählen. Es kann sagen: ‚Nein, das brauche ich nicht – das ist nicht mein Weg.‘ Es kann sich vom Negativen abgrenzen.

Wir werden immer im Leben positive und auch negative Erfahrungen machen. Doch wie gehen wir damit um? Wir haben immer den sogenannten freien Willen. Aber lernen wir etwas über den freien Willen in der Schule? Lernen wir, wie wir uns vor Manipulation schützen? Zu verstehen, was richtig ist und was falsch. Die Grenzen zwischen dem, was noch möglich ist, was ich tun darf und dem, was ich nicht darf, zu ziehen – was ist menschlich und was nicht? Mit der Zeit fehlt dieser Respekt vor dem Menschen und führt zu Extremismus.

Denn Extremismus ist eine Art der Manipulation, in der die Menschen ihre Menschlichkeit und die Werte wie Dankbarkeit, Respekt vor dem Leben und die Liebe zu den Menschen verlieren. Sie verlieren ihr eigenes Denken und verinnerlichen die Konzepte einer extremen Sichtweise.

Dann gibt es ein Denkkonzept von Wir und Ihr oder Weiß und Schwarz. Das ist extrem. Nein, es gibt auch ein Grau. Es gibt auch etwas dazwischen.

Die Prävention davor kann niemand allein schaffen, das geht nur zusammen.

Welche Chancen sehen Sie, diese Entwicklung, die Sie jetzt eben beschrieben haben, umzukehren?

Dankbarkeit ist ein großer Schlüssel und die daraus erwachsende Selbstliebe.

Und die Werte sind sehr wichtig, Selbstvertrauen, Zugehörigkeit. Dass sich die Jugendlichen nicht ausgeschlossen, nicht außen vor gelassen fühlen. Das ist sehr wichtig.

Denn wenn sich ein Kind isoliert fühlt, dann sucht es eine andere Gruppe, die diese Zugehörigkeit anbieten kann. Das kann dann Gefahr bedeuten. Wir wissen, dass eine negative Beeinflussung dann möglich ist, wenn die Kinder unsicher sind, sie einen niedrigen Selbstwert haben. Sie können in diesem Alter schwer Nein sagen.

Und wenn sie sich in der Klasse oder in einer Gruppe ausgeschlossen fühlen, werden sie etwas anderes suchen, wo Sie akzeptiert werden. Dies kann eine radikale Gruppe sein oder Vorbilder, die in den Extremismus führen.

Endlich fühlen sie sich irgendwo respektiert und akzeptiert. Denn keiner von uns kann alleine fröhlich oder glücklich sein. Jeder von uns braucht eine Familie, eine Gruppe, eine Gesellschaft.

Die Werte der Menschlichkeit haben wir verloren – in der Familie, in der Schule, in der Ausbildung. Unser Schulsystem ist sehr leistungsorientiert, sehr stressig für die Kinder.

Wir sind im Jahr 2025. Die Menschheit gibt es seit Tausenden Jahren und wir haben noch nicht gelernt, das Leben zu respektieren. Wir sind nicht so zufällig auf die Welt gekommen. Das Leben ist eine Schule, in der wir alle etwas zu erledigen haben. Das ist nicht zufällig. Wir haben noch nicht gelernt, dass das Leben ein Geschenk ist und nehmen alles sehr selbstverständlich.

Welche Rolle spielen Ihrer Ansicht nach die sozialen Medien und das soziale Umfeld?

Heute sind die Eltern auch viel mit sozialen Medien beschäftigt. Sie haben weniger Zeit, um ein Gespräch zu führen und qualitativ wertvolle Zeit mit den Kindern zu verbringen. Die Eltern sind heutzutage unter Stress – Stress in der Arbeit, Stress in der Familie.

Hinzukommt, dass die Gemeinschaft aus Eltern und Nachbarn, die Zivilgesellschaft, früher offener war. Die Nachbarn kannten sich untereinander. Heute kann es sein, dass wir uns nicht mehr kennen. Wir begrüßen uns vielleicht, aber eine Beziehung oder ein Nachfragen „Wie geht es dir? Was machen die Kinder? Geht es dir gut?“ fehlt oft. Doch das soziale Umfeld spielt eine große Rolle.

Jugendliche brauchen immer positive Vorbilder. Sänger oder Schauspieler sind dafür nur bedingt geeignet, denn sie brauchen jemanden für ihre persönliche Entwicklung. Jemand, der wirklich einen positiven Einfluss auf sie hat und nicht umgekehrt. Das kann auch jemand außerhalb der Familie sein, eventuell sogar jünger als die Eltern.

Manchmal sagen wir als Eltern sehr klar: „Nein, das darfst du nicht.“ Aber wir erklären nicht viel. Doch unsere Kinder brauchen das. Und in der Pubertät hören sie gern etwas anderes. Wenn es nicht von der Familie kommt, von wo soll es draußen kommen?

Wie können Eltern ihre Kinder gut unterstützen?

Eine gute Kommunikation und eine gute Beziehung zum Kind zu haben, das ist das Wichtigste. Denn unabhängig davon, was passiert: Die Mama ist immer die Mama. Die Beziehung zum Kind bleibt.

Es ist schwierig, ein Gleichgewicht zu finden zwischen der Autorität als Eltern – zu sagen, wo es lang geht – und der Toleranz, die Meinung des Kindes zu akzeptieren.

Die Kinder brauchen unsere Begleitung. Sie brauchen unsere Grenzen und sie brauchen Struktur und Klarheit von uns. Wenn wir ambivalent sind, kann das gefährlich für die Kinder sein.

Sie brauchen Zeit, um sich als junge Menschen eine eigene Meinung zu bilden, unterscheiden zu lernen, welche Informationen sind wahr oder unwahr.

Sehen Sie das oft in Ihrer Arbeit, dass Eltern nicht mehr ihre Elternrolle einnehmen?

Die Eltern heutzutage sind manchmal überfordert, muss ich sagen – von der Arbeit und manchmal mit eigenen Problemen. Seit der Corona-Zeit beobachte ich, dass die Eltern auch oft Probleme mit ihrer Arbeit haben. Sie müssen gleichzeitig viele Dinge organisieren, besonders wenn Sie mehrere Kinder haben. Sie brauchen Unterstützung.

Es ist schwierig, auf der einen Seite Freiheit zu geben und zu verstehen und andererseits Grenzen zu setzen. Ich bin selbst Mutter von zwei jungen Männern.

Kinder und Jugendliche brauchen unbedingt Grenzen, doch mit Liebe. Es geht um Liebe, wenn wir die Grenzen setzen, wenn wir konsequent bleiben und nicht ambivalent sind. Das ist sehr wichtig, zu verstehen.

[etd-related posts=“4365584,3909779″]

Durch die viele Berufstätigkeit verschiebt sich natürlich auch der Alltag für die Kinder und Jugendlichen immer mehr in die Institutionen. Welche Chancen sehen sie da? Wie können die Lehrer unterstützt werden?

Die Lehrer sind auch in einer schwierigen Position. Auf der einen Seite müssen sie darauf achten, den Stoffplan zu erledigen, andererseits gilt es, nicht zu vergessen, dass der wichtigste Unterricht der Unterricht des Lebens ist.

Das persönliche Vorbild für ein Kind ist das, was zählt. Ein guter Lehrer kann auch ein Vorbild für Jugendliche sein. Doch ich glaube, das gibt es nicht so oft.

Ich beobachte in meiner Praxis, dass die Kinder und Jugendlichen nicht mehr so viel Spaß haben, in die Schule zu gehen. Die Schule ist heute nicht mehr der Platz, sich mit Freunden zu treffen oder sich zu freuen, etwas Neues zu lernen.

Es gibt viel Überforderung. Die Schularbeiten sind stressig. Ich beobachte, dass die Kinder, die im Juli kommen, alle strahlen. Doch jetzt sind alle vor Stress angespannt. Vielleicht ist es nicht der Lernstoff an sich, sondern der Stellenwert, den die Leistungsorientierung einnimmt, der stresst.

Es geht weniger um Beziehungen [zwischen Lehrern und Kindern]. Die Kinder verbringen viel, viel Zeit in der Schule und es ist wichtig, auf die Qualität dieser Zeit zu achten, nicht nur auf den Stoff; auch wenn die Lehrer dabei sicher unter Druck gegenüber der Bildungsbehörde stehen.

[etd-related posts=“4950922,4599566″]

Wie können die Eltern unterstützt werden?

Viele Eltern bemühen sich sehr. Das sehe ich. Sie haben ein großes Bedürfnis nach Beratung und Begleitung und nicht nach Kritik und Ablehnung.

Wenn Eltern mit so vielen Schuldgefühlen kommen, sage ich immer: Du bist die beste Mama für dein Kind, denn sonst würde es nicht dein Kind sein. Die beste Mama, nicht vergessen!

Unsere Kinder sind wie ein Spiegel für uns. Sie spiegeln einfach unsere Probleme und umgekehrt. Wir lernen also auch von unseren Kindern und die Kinder natürlich von uns.

Unsere Kinder bleiben für immer unsere Kinder. Aber irgendwann sollten wir verstehen, dass sie als Individuum komplett separat von uns sind. Sie haben eigene Meinungen, müssen ihre eigene Rolle finden und wir können sie unterstützen, den für sie passenden Weg einzuschlagen. Wir können von unserer Erfahrung erzählen, die Kinder begleiten, doch wir müssen akzeptieren, dass sie mit zunehmendem Alter eigene Entscheidungen treffen.

Wenn wir ein Verhalten ändern wollen, seien wir am besten das Vorbild. Be the change you want in your child.

Ganz herzlichen Dank, Frau Dr. Michas, für das gute Gespräch und das schöne Schlusswort.

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion