Warum Kurzvideos unsere kognitiven Fähigkeiten gefährden

In den vergangenen Jahren haben Kurzvideoplattformen wie TikTok, Instagram Reels oder YouTube Shorts die digitale Medienlandschaft revolutioniert. Innerhalb weniger Sekunden liefern sie Unterhaltung, Information und Dopamin. Besonders bei jungen Menschen ist dieses Format beliebt. Doch während die Videos für schnelle Ablenkung sorgen, warnen Wissenschaftler zunehmend vor den kognitiven Folgen. Kurzvideos, auch Informationsvideos, bergen die Gefahr, dass sich die Konsumenten an eine oberflächliche Verarbeitung gewöhnen und das langsame analytische Denken vernachlässigen.
Kurzvideos als Lernhindernis – negative Effekte für Lernerfolg und Denkvermögen
Thorsten Otto, Psychologe an der Technischen Universität Braunschweig, untersuchte in zwei Studien, welchen Einfluss Kurzvideos auf das Lernen und das Denken haben. Die zentrale Erkenntnis: Die schnell konsumierbaren, visuell reizvollen Clips – oft nicht länger als 60 Sekunden – begünstigen oberflächliches Lernen. Ein nachhaltiges Verständnis oder tiefergehendes Nachdenken bleibt dabei oft auf der Strecke.
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In einem Online-Experiment verglich Otto den Lerneffekt anhand von Kurzvideos mit dem von Informationen in Textform. 123 Studenten wurden dafür in vier Gruppen aufgeteilt. Zwei Gruppen erhielten ein und denselben Lerninhalt als Fließtext, die anderen beiden sahen eine Sammlung aus drei kurzen Erklärvideos im Stil von TikTok. Das Ergebnis war eindeutig: In einem anschließenden Wissenstest – insbesondere bei Aufgaben, die komplexes Denken erforderten – schnitten die Videogruppen deutlich schlechter ab.
Eine ergänzende Untersuchung Ottos mit 169 Erwachsenen kam zu einem ähnlichen Ergebnis. Die Teilnehmer wurden zu ihrem Nutzungsverhalten von Kurzvideos sowie zu ihren Lernzielen und ihrer Einschätzung des eigenen Denkvermögens befragt. Dabei zeigte sich: Wer viele Kurzvideos konsumiert, schätzt auch seine Fähigkeit zum logischen Denken meist niedriger ein – und erzielt tatsächlich schlechtere Resultate in entsprechenden Tests. Ob dies jedoch eine direkte Folge des Videokonsums ist oder ob Menschen mit geringerer Denkleistung in dem Bereich eher zu solchen Formaten greifen, lasse sich bislang nicht abschließend sagen.
Die Macht der kurzen Clips: Unterhaltung im Sekundentakt
Diese Ergebnisse stehen im Einklang mit bereits bestehenden Veröffentlichungen. Die Neurowissenschaftlerin Maryanne Wolf, Professorin an der University of California, Los Angeles, warnt in ihrem Werk „Reader, Come Home“ davor, dass digitale Medien – speziell schnell konsumierbare Inhalte – das Gehirn langfristig von vertieftem Lesen und reflektiertem Denken entwöhnen. Wer sich an das oberflächliche Überfliegen von Informationen gewöhnt, verliere die Fähigkeit, sich vertieft mit Inhalten auseinanderzusetzen.
In einem Interview mit „Die Zeit“ sagte Wolf: „Der Bildschirm programmiert uns auf Ablenkung. Das ist eine außerordentliche Veränderung gegenüber der Art des immersiven oder vertieften Lesens, wie wir es auf Papier oder in einem gebundenen Buch erleben.“ In der digitalen Welt gebe es zu viele Informationen, die wir nicht alle aufnehmen könnten. Die Leseforscherin ist sich hier sicher: Digitaler Konsum schade der Fähigkeit, Komplexität zu ertragen.
Eine Studie aus dem Jahr 2023 bestätigte, dass Smartphone-Nutzung nicht nur negative Auswirkungen auf die kognitiven Leistungen hat, sondern auch, dass die bloße Anwesenheit dieser Geräte diesen Effekt haben kann. Dies wird „Brain Drain Effect“ genannt.
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Von der Ablenkung zur Abhängigkeit: Was Kurzvideos mit unserem Gehirn machen
Der Mechanismus hinter Kurzvideos lässt sich neurobiologisch erklären. Diese arbeiten mit schnellen Schnitten, auffälligen Tönen und visuellen Reizen – sie aktivieren das Belohnungssystem des Gehirns, insbesondere über den Neurotransmitter Dopamin. Diese Reizüberflutung hat zur Folge, dass das Gehirn „trainiert“ wird, möglichst schnell zwischen Inhalten zu wechseln, wodurch die Toleranz für längere, komplexere Beschäftigung sinkt.
Der Gehirnforscher und Psychiater Prof. Manfred Spitzer spricht in diesem Zusammenhang sogar von einer „digitalen Demenz“. In seinem gleichnamigen Buch erklärt der Wissenschaftler, wie das Gehirn durch Dauerablenkung verkümmert, weil bestimmte Denkprozesse kaum noch trainiert werden – ähnlich wie ein Muskel, der nicht benutzt wird.
Auch andere Arbeiten zu den Auswirkungen der rasanten Inhalte von TikTok und des Scrollens auf die Aufmerksamkeitsspanne von Schülern deuten darauf hin, dass schnelles Tempo und die ständige Stimulation zu einer verkürzten Aufmerksamkeitsspanne führen können, wodurch die Fähigkeit der Schüler, sich bei komplexen Aufgaben zu konzentrieren, verringert wird.
Bedeutet das nun, dass wir Kurzvideos grundsätzlich vermeiden sollten? Nicht zwangsläufig. Denn Medien sind nicht per se gut oder schlecht – entscheidend ist der Umgang damit. Die Autoren der Studien rufen daher nicht zur vollständigen Abstinenz auf, sondern fordern pädagogische Konzepte, die den bewussten und selektiven Umgang mit digitalen Inhalten fördern. Schulen und Hochschulen sollten Lernstrategien vermitteln, die kritisches Denken, nachhaltiges Verstehen und Selbstreflexion stärken. Auch den Eltern komme eine wichtige Rolle zu: Sie sollten das Medienverhalten ihrer Kinder aktiv begleiten und Alternativen zu passivem Konsum anbieten.
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Was wir dagegen tun können
Im Alltag gibt es eine Vielzahl konkreter Maßnahmen, mit denen sich die negativen Effekte von Kurzvideos reduzieren lassen. Ein erster Schritt ist die bewusste Begrenzung der täglichen Medienzeit. Methoden wie das „digitale Fasten“ – etwa ein oder zwei Tage pro Woche ganz ohne Social Media – können helfen, den Kreislauf aus Reizüberflutung und Ablenkung zu durchbrechen. Auch Zeitspar-Apps oder Bildschirmzeiteinstellungen auf Smartphones können sinnvoll eingesetzt werden. Ferner ist es hilfreich, gezielt Langformmedien in den Alltag zu integrieren: Bücher, längere Artikel, hochwertige Podcasts oder Dokumentationen fördern das Konzentrationsvermögen und stärken das Langzeitgedächtnis.
Eine weitere bewährte Strategie ist das sogenannte „Mindful Reading“ – also das bewusste, langsame Lesen von Texten mit Notizen, Markierungen und eigenen Gedanken. In Kombination mit einem Reflexionstagebuch, in dem man täglich kurz festhält, was man gelernt oder gedacht hat, lassen sich analytische Denkfähigkeiten gezielt trainieren. Eine einfache Übung: Vor dem Lesen drei tiefe Atemzüge nehmen, dann bewusst Satz für Satz mit Markierungen lesen – ohne nebenbei das Smartphone zu checken.
Auch Schulen und Bildungseinrichtungen sind gefordert – mit dem Ausbau digitaler Medienbildung. Kinder und Jugendliche könnten dabei lernen, wie Social-Media-Plattformen funktionieren, welche psychologischen Mechanismen dahinterstehen und wie man zwischen Informationsgehalt und emotionaler Manipulation unterscheidet.
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Kurzvideos sind inzwischen ein etablierter Bestandteil der digitalen Kultur und werden es wohl auch bleiben. Sie können durchaus kreativ, unterhaltsam und auch lehrreich sein. Wenn sie zum dominanten Format unseres Medienkonsums werden und dabei tiefere Denkprozesse verdrängen, wird es problematisch. Die Herausforderung besteht darin, einen bewussten Umgang zu finden – sowohl individuell als auch gesellschaftlich.
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