Wege aus der Einsamkeit – wenn Lebensfreude zurückkehrt

Erst beim zweiten Blick fällt sie ins Auge: Die bunte Bank auf dem weitläufigen Platz vor dem Bezirksamt im Berliner Stadtteil Reinickendorf. Plauder- oder Quasselbank wird sie genannt und ist Teil der Maßnahmen gegen Einsamkeit.
Keine 20 Minuten mit dem Rad entfernt, lädt im Café Laufer ein Stammtisch zum Frühstück oder am Nachmittag bei Kaffee und Kuchen zur Begegnung. Auch hier ist das Motto: Raus aus der Einsamkeit.
Unter großen Sonnenschirmen kann auf der Terrasse Platz genommen werden, die Menschen sind freundlich, die Umgebung mutet geradezu dörflich an in ihrer noch bestehenden Struktur aus Metzger, Bäcker, Bank und Friseur. Nur der Buchladen erinnert in der ruhigen, durchaus wohlhabenden Gegend, dass wir in der Stadt sind.
Manchmal braucht es einen Eisbrecher
Die Hemmschwelle zuzugeben, dass man Kontakt sucht, sich einsam fühlt, liegt hoch. Frau Mareike Seefluth, die zusammen mit ihrem Bruder die Konditorei Laufer in der fünften Generation betreibt, weiß, dass es um Beziehungen geht und es manchmal nur ein wenig Ermutigung braucht, um das Eis zu brechen.
So bittet sie einzeln die Gäste, die zum Stammtisch gekommen sind, aber „lieber erst mal nur zuschauen wollen“ an den gemeinsamen, sogenannten Plaudertisch. Mit Charme und Freundlichkeit holt sie die Menschen aus der Zuschauer- in die Akteurrolle. Mit Erfolg. Aus dem Kennenlernen am Plauderstammtisch entstehen gemeinsame Unternehmungen wie eine Ausfahrt im Oldtimer oder ein gemeinsamer Urlaub.
Eine andere Dame, bereits über 90 Jahre, verlegt gar ihr morgendliches Frühstück jeden Tag ins Café und bietet so mit ihrem eigenen Stammtisch, ihren Bekannten und Freunden einen verlässlichen Anlaufpunkt.
In Kontakt bleiben
Frau Seefluths Engagement kommt dabei aus dem Selbstverständnis als Familienbetrieb, etwas zurückgeben zu wollen. Als die Freunde des Großvaters einer nach dem anderen verstarben und sie miterlebte, wie die zurückgebliebenen Partner abbauten, vereinsamten, wollte sie eine Möglichkeit schaffen, dass diese wieder Anschluss finden.
Besonders freut sie, dass ein Herr sofort nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus – wo er wegen Depressionen behandelt wurde – beim gemeinschaftlich organisierten Straßenfest morgens am Eingang mithilft. Das Plakat zur Veranstaltung war ihm ins Krankenzimmer gebracht worden.
Ihren Erfahrungsschatz teilt sie gerne mit anderen Wirten und Cafébetreibern, die ebensolche Treffpunkte in ihren Lokalitäten etablieren möchten.
Vernetzen ist dabei das A und O – dafür sorgt Katharina Schulz, Einsamkeitsbeauftragte von Berlin-Reinickendorf.
Sie treffe ich im oben erwähnten Bezirksamt. Eigentlich wollten wir natürlich auf der bunten Bank plaudern, doch der sommerlich-heiße Wind treibt uns in die Cafeteria des Verwaltungsgebäudes.
Sich gegenseitig wahrnehmen
Die Mitarbeiterin an der Theke und Frau Schulz begrüßen sich herzlich. Ein Blick in die Vitrine zeigt, hier ist nichts von der Stange: Couscousgerichte und andere handgefertigte Leckereien laden zum Verzehr. Kurz tauschen sich die beiden aus, bevor wir uns am anderen Ende der langgestreckten Cafeteria zum Interview niederlassen.
Immer mehr Menschen auf engem Raum führen zu Spannungen. Man verlöre den Blick für das Ganze. Die Hektik in der Großstadt, der Leistungsdruck, tragen dazu bei.
Schnell wird im Gespräch klar: Es geht nicht um werbewirksame Events, der einzelne Mensch steht für Frau Schulz im Mittelpunkt und damit die Beziehungen untereinander.
„Die Menschen brauchen Gesellschaft. Wir sind soziale Wesen. Und es ist immer schön, zusammenzuarbeiten, zusammen etwas zu machen, miteinander zu reden. Reden verbindet“, ist Schulz überzeugt.
Deswegen gebe es ja auch die Quasselbänke. Die Idee hätten sie aus England abgekupfert, man müsse das Rad ja nicht neu erfinden. Viel positiver Rücklauf gäbe es dazu von Bürgern, die jüngst aufgestellte Bank gehe gar auf eine Bürgerinitiative zurück.
Erfolgsgeschichten
Eine Familie war neu zugezogen, hatte von der Bank gegen Einsamkeit gehört und rief an, dass sie sich auch so eine Bank wünschen würden als Treffpunkt mit der Nachbarschaft. Nun steht sie dort zur Freude aller.
Eine andere steht in der Nähe einer Bushaltestelle, im Schatten, das sei natürlich wichtig im Sommer – der Jahreszeit, in der die Bänke naturgemäß am höchsten frequentiert sind. Umgehend bekam Katharina Schulz einen Anruf: Schon beim Warten auf den Bus habe sich jemand zu ihr gesetzt und sie hätten ein wenig geplaudert. Kleinigkeiten möchte man meinen, jedoch mit so viel Bedeutung für den Einzelnen, dass die Dame zum Telefon griff, um sich zu bedanken.
Ein anderes Mal, an der Bank direkt vor dem Bezirksamt, kam eine Rentnerin extra aus einem entfernter gelegenen Stadtbezirk zum Treff an der Bank. Am Ende des Gesprächs mit einer anderen älteren Frau, erzählt Frau Schulz, sei sie zu ihr gekommen und habe um Stift und Papier gebeten. Sie würden Telefonnummern tauschen wollen.
Schließlich stellten sie fest, dass sie ganz in der Nähe voneinander wohnen würden und fuhren gemeinsam mit dem Bus nach Hause. Das seien Momente, die beglücken, so Schulz, denn es brauche manchmal nicht viel, um Lösungen herbeizuführen.
Im Übrigen sind die Bänke upgecycelt, indem sie von Auszubildenden aufgearbeitet und bemalt wurden. Die nächste wird auf einem Friedhof stehen, in Kooperation mit der katholischen Kirche, ergänzend zu deren seelsorgerischem Programm.
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Generationenvertrag
Auf die Frage, was uns denn so „atomatisiert“ habe, sinniert Schulz lange. Vielleicht die Individualisierung, das Streben nach Wirtschaftlichkeit? In Gemeinschaften, die etwas dörflicher strukturiert seien, wäre es noch selbstverständlich, wenn wir einander anlächeln und „Hallo“ oder „Guten Morgen“ sagen.
Der Moment, in dem man in das Seniorenalter eintrete, verschärfe die Trennung noch. Gesellschaftlich verliere man an Wert, da die Produktivität wegfalle. „Dabei ist da so viel an Lebensweisheit, die weitergegeben werden muss“, reflektiert Schulz. Die Dankbarkeit an die ältere Generation sei verloren gegangen. Wie wäre es, wenn es noch eine Ehre wäre, sich um die Eltern zu kümmern, wenn sie alt sind?
„Es war für mich in meiner Kindheit das Schönste, dass meine Oma für mich da war und für mich gekocht hat“, erinnert sich die heutige Einsamkeitsbeauftragte. „Die ältere Generation war für uns da und ich finde, es ist auch unsere Verantwortung für sie, da zu sein.“
Den Blick wenden
Für viele Ältere werde das Thema Einsamkeit besprechbar. Für jüngere Menschen, Menschen mittleren Alters, sei es immer noch sehr tabubehaftet. Doch es sei schon der erste Schritt, wenn „die Leute kommen und mit uns sprechen, auch wenn sie es nicht öffentlich machen, sondern mich anrufen, mailen, zu den Trägern gehen und sagen ‚Ich fühle mich einsam.‘ Das ist der erste Schritt.“
Alle Einrichtungen, die sich als Anlaufstellen für einsame Menschen sehen, zeigen das mit einem Sticker. Darunter auch das Buddhistische Haus, Kirchen, Migrationsselbsthilfegruppen, Moscheen. In der Nacht sichtbar, da fluoreszierend. Entwickelt und digitalisiert wurde er von der Künstlergilde für Medizin an der Charité.
Anstatt sich immer weiter in die Spirale der Einsamkeit ziehen zu lassen, möchte der Sticker motivieren, sich umzudrehen, einen anderen Blickwinkel einzunehmen. Denn direkt hinter einem warten viele Angebote, Möglichkeiten – symbolisiert durch bunte Quadrate.
Eines der vielleicht wirksamsten ist das Ehrenamt: Den Fokus auf den Unterstützungsbedarf des anderen zu legen. Nicht zufällig ist Katharina Schulz auch Ehrenamtsbeauftragte. Eine Kombination, die förmlich auf der Hand liegt.
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Lebensfreude wiederentdeckt
„Er war Lesepate für Kinder, hatte früher nie was mit Kindern zu tun“, teilt Katharina Schulz zum Abschluss eine weitere mutmachende Geschichte eines älteren Herren. „Nachdem er nach Renteneintritt alles erledigt hatte, was er sich vorgenommen hatte, fiel er in ein Loch.“
Er sagte mir, dass er merkte, wie er sich isolierte. Das Ehrenamt habe ihm geholfen, dort wieder herauszufinden, und er habe seine Lebensfreude wiederentdeckt.
Er hätte sich nie vorstellen können, wie viel ihm das gibt, wenn er den Raum betritt und in die Kinderaugen sieht. Er freut sich auf diesen Vorlesetermin mit den Kindern und die Kinder freuen sich auf ihn.

Kleiner Aufwand, große Wirkung: Beim sogenannten Plaudertisch aus der Einsamkeit rauskommen – ähnlich einem Stammtisch, nur dass hier Neue willkommen sind. Foto: Silke Ohlert/Epoch Times
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