Das Ringen um seelische Einheit

In Platons „Gorgias“ wie auch bei Dostojewskis „Brüder Karamasow“ stehen unterschiedliche Charaktere für die widerstreitenden Anteile in uns selbst. Beide Werke können uns ganz aktuell wegweisend sein im Dschungel der Möglichkeiten menschlichen Verhaltens.
Titelbild
„Platos Gastmahl“, 1869, von Anselm Feuerbach.Foto: Gemeinfrei
Von 31. März 2025

Wie können wir bessere Menschen werden? Was brauchen wir, um Laster abzulegen und Tugenden anzunehmen? Welche Rolle spielen Glaube und Vernunft bei der Suche nach dem Guten?

Diese Fragen beschäftigen die Menschheit seit Jahrtausenden. Gleich zwei große Denker – der griechische Philosoph Platon und der russische Schriftsteller Fjodor Dostojewski – mahnten, dass bei der Suche nach Antworten stets auch das Wesen der menschlichen Seele mitbedacht werden müsse.

Die Seele in drei Teilen

Platon (circa 427 v. Chr. bis 348 v. Chr.) revolutionierte die westliche intellektuelle Tradition mit einer Reihe von Dialogen, in denen sein Mentor Sokrates auftritt. Dazu gehört sein Werk „Gorgias“, in dem die Beziehung zwischen Rhetorik, Freiheit und Gerechtigkeit untersucht wird.

Das Fresko „Die Schule von Athen“ des Renaissancekünstlers Raffael zeigt die Platonische Akademie, eine berühmte Schule im antiken Athen, die im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. vom Philosophen Platon gegründet wurde. Im Zentrum stehen Platon und Aristoteles im Gespräch. Foto: Gemeinfrei

Platon war der Ansicht, dass die Seele aus drei Teilen besteht, die jeweils von einem der drei Gesprächspartner des Sokrates repräsentiert werden.

Der erste ist der gefeierte Rhetoriker Gorgias von Leontinoi, ebenfalls eine historische Figur, nach dem das literarische Gespräch benannt ist. Seine Teilnahme am Dialog steht für die Vernunft.

Die Leser stellen jedoch schnell fest, dass Gorgias’ „Rationalität“ eher mit Gerissenheit zu vergleichen ist. Seine Beherrschung der Sprache erlaubt es ihm, „das schwächere Argument stärker zu machen“, was seiner Meinung nach der zuverlässigste Weg ist, Macht über andere auszuüben und Freiheit zu erlangen.

Gorgias ist nicht der Wahrheit oder Gerechtigkeit verpflichtet. Vielmehr möchte er seine rhetorischen Fähigkeiten nutzen, um andere dazu zu bringen, alles zu glauben, was er sagt. Für jemanden, der so schlau ist wie er, ist jede moralische Einstellung gleichermaßen vertretbar und daher gleichermaßen gerechtfertigt.

Der zweite Gesprächspartner ist einer von Gorgias’ Schülern, der ungeduldige und impulsive Polus, der den leidenschaftlichen Teil der Seele repräsentiert.

Polus verteidigt seinen Mentor schnell, fühlt sich oft durch Sokrates’ Kommentare beleidigt und erhebt wütende Einwände gegen das, was er als aufdringliche Befragung empfindet. Er hat keine Zeit für Gespräche oder Spiele. Er will Antworten, damit ihn nicht der Zorn überkommt.

Sokrates’ letzter Gesprächspartner ist Kallikles, der für den „Appetit“ steht – jenen grundlegenden Trieb, der sich bei Platon vor allem im Verlangen nach Nahrung, Sexualität und ähnlichen Bedürfnissen äußert. Kallikles artikuliert unverschämt eine Weltanschauung, die auf Macht und der Dominanz der Starken basiert. Seine Ansichten, die so radikale Denker wie Friedrich Nietzsche inspirierten, sind eine antike Version des „Überlebens des Stärkeren“.

Wie Kallikles sagt, lassen „überlegene“ Menschen ihren „Begierden freien Lauf und zügeln sie nicht“. Sie sollten ihren Verstand und ihren Mut einsetzen, um ihre jeweiligen Wünsche zu erfüllen, sei es nach Nahrung oder nach Herrschaft. Das ungezügelte Streben nach Vergnügen und Macht: Das ist Kallikles’ Weg.

Detail aus „Das Gastmahl der Götter“, 1514 und 1529, von Giovanni Bellini und Tizian. Öl auf Leinwand. National Gallery of Art, Washington. Foto: Gemeinfrei

Wahrheitssuche ohne Dominanz

Platon war der Ansicht, dass Vernunft, Leidenschaft und Appetit unter der Leitung der Vernunft zusammenwirken müssen. Eine geordnete Seele macht einen Menschen stabil, aber die Seele kann nur geordnet werden, wenn sie der Führung der Vernunft folgt.

„Vernunft“ bedeutet hier nicht die böswillige Gerissenheit eines Gorgias, sondern vielmehr die ehrliche Anwendung von Logik, für die Sokrates steht.

Der Philosoph verkörpert echte rationale Untersuchung, die sich im Dialog entfaltet und nicht darauf abzielt, andere zu dominieren. Er ist auch leidenschaftlich. Er strebt unermüdlich nach Wahrheit und scheut sich nicht, seine wetteifernden Gesprächspartner mit Nachdruck herauszufordern, solange sie sich bereit erklären, nach der Wahrheit zu suchen.

Schließlich weiß Sokrates, wie er seine Begierden regulieren kann. Er vergleicht Kallikles mit einem Besitzer „undichter Krüge“, der „gezwungen ist, sie ständig zu füllen, Tag und Nacht, oder sonst extreme Not zu erleiden“.

Im Gegensatz zu jemandem, der nach etwas strebt, das zwangsläufig verschwinden wird, ist Sokrates stabil wie ein Krug, der immer voll ist.

Die „Gorgias“ war in der gesamten westlichen Tradition unglaublich einflussreich, auch weil sie gängige menschliche Persönlichkeitstypen veranschaulicht. Mehr als 2.200 Jahre später griff der russische Autor Fjodor Dostojewski Platons Themen in „Die Brüder Karamasow“ wieder auf, das den Lesern noch detailliertere Beispiele dafür bietet, was es bedeutet, „die Seele zu ordnen“.

Die Seele der Familie Karamasow

Der verstorbene Yale-Professor Robert Jackson vertrat die Ansicht, dass im Zentrum von Dostojewskis künstlerischem und philosophischem Bewusstsein „die zentrale Beschäftigung mit dem Menschen, die Betrachtung des Menschen als Rätsel und der Gedanke, dass man, um ein Mensch zu sein, ein aktives Interesse am Menschsein haben muss“, standen.

Dostojewski beschrieb seine Methode als eine Suche nach der Lösung dieses Rätsels: „Ich gehe in die Tiefe und analysiere Atom für Atom, um das Ganze zu finden.“

Ein Porträt von Fjodor Dostojewski, 1872, von Wassili Perow. Tretjakow-Galerie, Moskau. Foto: Gemeinfrei

„Die Brüder Karamasow“, das zwischen 1879 und 1880 veröffentlicht wurde, ist ein perfektes Beispiel für Dostojewskis tiefgreifende Einblicke in die menschliche Psyche. Es wurde aufgrund seiner Reflexionen über Zweifel, Vernunft, freien Willen und eine Vielzahl anderer philosophischer Themen als „theologisches Drama“ beschrieben.

Diese Reflexionen entfalten sich anhand der Irrungen und Wirrungen der Familie Karamasow: Fjodor, der Vater, und seine drei Söhne Dmitri, Iwan und Aljoscha.

Fjodor ist selbstverliebt und hedonistisch. Er drückt sich vor seiner Verantwortung als Vater und ist immer auf der Suche nach dem nächsten Drink. Nach seiner Ermordung beschreibt der Staatsanwalt Fjodor fast genauso, wie Sokrates Kallikles beschreibt: „Er sah im Leben nichts außer sinnliches Vergnügen und erzog seine Kinder so, dass sie genauso wurden. […] Er war ein Beispiel für alles, was der Bürgerpflicht entgegensteht, für den vollständigsten und bösartigsten Individualismus.“

Fjodors ältester Sohn Dmitri ist genauso hedonistisch wie sein Vater. Er ist auch jähzornig und schnell wütend. Sein Kampfgeist lässt sich leicht entfachen, und sein explosiver Zorn hindert ihn oft daran, über eine für alle verträgliche Vorgehensweise nachzudenken.

In dieser Hinsicht zeigt Dmitri die gleiche Lebhaftigkeit, die die Leser in Polus finden. Aber er legt auch ein sich selbst erkennendes Bewusstsein an den Tag, das in den „Gorgias“ nicht zu finden ist. Dmitri weiß oft, wo er einen Fehler gemacht hat.

Diese Einsicht führt zu einer der prägnantesten Zeilen des Buches: „Schönheit ist sowohl geheimnisvoll als auch schrecklich. Gott und der Teufel kämpfen dort und das Schlachtfeld ist das Herz des Menschen.“

„Alter Mann sitzend“, ca. zwischen 1630 und 1633, Rembrandt. Die betäubende Wirkung von Alkohol war im 3. Jahrhundert v. Chr. genauso stark wie im 17. Jahrhundert n. Chr., als Rembrandt einen Mann im Würgegriff des Alkohols skizzierte. Foto: Gemeinfrei

Während Dmitri oft von seinen Emotionen mitgerissen wird und dabei die Vernunft außer Acht lässt, ist Iwan, der mittlere Karamasow, übermäßig rational. Sein charakteristisches Merkmal ist die kalte Distanziertheit, mit der er die Existenz Gottes leugnet.

Wie der preisgekrönte Dostojewski-Biograf Joseph Frank feststellte, schwankt Iwan in seinem Inneren „zwischen der Anerkennung der moralischen Erhabenheit des christlichen Ideals und seiner Empörung über ein Universum voller Schmerz und Leid“.

Ivans Argumentation ist, wie die des Gorgias, prägnant und weitreichend. Aber seine Hyperrationalität untergräbt seine moralische Grundlage und hindert ihn daran, sich dem Guten zu widmen. Wie Ivan selbst erkennt: „Intelligenz windet sich und versteckt sich. Intelligenz ist prinzipienlos.“

Er ist Gorgias in Reinform. Sosehr er sich auch irrt, Gorgias nutzt die Vernunft für einen klaren Zweck: Geld und Einfluss zu gewinnen. Iwans Zweck ist weniger klar definiert. Sein unerbittlicher Skeptizismus führt schließlich zu existenzieller Verzweiflung und zeigt den Lesern die erschreckende Unzulänglichkeit eines ungebremsten Unglaubens.

Wenn Sokrates Platons Vorbild für eine geeinte Seele ist, wer ist dann Dostojewskis Vorbild?

Glaube, Liebe und Mitgefühl

Aljoscha ist der jüngste Bruder der Karamasow-Brüder und sein Glaube steht in starkem Kontrast zu Iwans Atheismus. Aljoscha ist zweifellos intelligent, aber überwältigende Logik ist nicht seine Stärke.

Als Novize in einem russisch-orthodoxen Kloster sieht er das Leben durch eine spirituelle Brille. Er nimmt Gott nicht durch Vernunft an, sondern durch Glauben, was sich in seinem Glauben an die angeborene Güte der Menschheit widerspiegelt.

Die Prüfungen, die Aljoscha in „Die Brüder Karamasow“ durchmacht, verändern seinen Charakter. Sein christlich-orthodoxer Glaube ist ihm dabei Richtschnur für seine Entscheidungen. Foto: Ivan Murauyou/iStock

Aljoschas Frömmigkeit wird jedoch durch den Umgang mit schwierigen und dominanten Persönlichkeiten, darunter auch seine eigenen Familienmitglieder, auf die Probe gestellt. Seine Gelassenheit unterscheidet ihn als jüngsten der Karamasows deutlich von seinem Bruder Dmitri.

Aljoscha ist dennoch leidenschaftlich, aber wie Sokrates lässt er sich nie von seinen Gefühlen überwältigen. Mitgefühl und sanftes Charisma sind seine größten Qualitäten, die ihn zur liebenswertesten Figur des Romans machen.

Auch wenn Sokrates die Vernunft anders einsetzt als Gorgias, ist sein Markenzeichen immer noch die rationale Untersuchung. Im Gegensatz dazu überzeugt Aljoscha durch sein Vorbild. Der Roman endet mit der Beerdigung des jungen Iljuscha, des Sohnes eines Militäroffiziers, der einst von Dmitri angegriffen wurde.

Während der Zeremonie ermahnt Aljoscha die Anwesenden, sich an den verstorbenen Jungen zu erinnern und die Liebe zu schätzen, die sie füreinander empfanden: „Lasst uns daran denken, wie gut es hier einmal war, als wir alle zusammen waren, vereint durch ein gutes und freundliches Gefühl, das uns für die Zeit, in der wir diesen armen Jungen liebten, vielleicht besser machte, als wir es sind.“

„Wie schlecht wir auch werden mögen“, sagt Aljoscha, „erinnern wir uns daran, wie wir Iljuscha begraben haben, wie wir ihn in seinen letzten Tagen geliebt haben und wie wir alle wie Freunde miteinander gesprochen haben.“ Der beste Ausdruck unseres inneren Wesens zeigt sich in liebevoller Gemeinschaft mit unseren Mitmenschen.

Der Kampf der Seele

Die „Gorgias“ und „Die Brüder Karamasow“ schildern den Kampf der Seele um die Verwirklichung ihres Potenzials für Ordnung und Stabilität. Spannungen entstehen, wenn ein Teil der Seele die Oberhand über die anderen gewinnt, wie die Leiden der Figuren sowohl im Roman als auch in Platons Dialog zeigen.

Wenn Polus‘ Leidenschaft feindselige Worte gebiert, kommt es zu Konflikten. Wenn Iwans Vernunft dominiert, verfällt er in Verzweiflung. Der Kampf findet sowohl innerlich als auch äußerlich statt. Er findet in uns und zwischen uns statt.

In Sokrates und Aljoscha finden wir zwei geordnete Seelen. Für Sokrates findet die Seele nur dann Einheit, wenn die Vernunft die Leidenschaft und den Appetit überwindet. Wie er bekanntermaßen argumentierte, ist das ungeprüfte Leben nicht lebenswert. Ein rationaler Dialog und die Selbstprüfung helfen den Menschen zu verstehen, dass sie Mäßigung, Weisheit und Wahrheit anstreben und niedere Freuden, Reichtum und Macht ablegen sollten, genau wie er.

Dostojewski würde dem vielleicht zustimmen, aber er würde Sokrates daran erinnern, dass die Vernunft allein die Seele nicht ordnen kann. Sie ist notwendig, aber nicht ausreichend. Im Gegensatz zu Sokrates zeigt die Figur des Aljoscha den Lesern, dass das Potenzial für das Gute nicht im Triumph der Vernunft offenbart wird, sondern im Schmelztiegel des Leidens, des Glaubens und der erlösenden Liebe.

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel „The Struggle for Unity in the Soul“. (deutsche Bearbeitung so)



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