Ist es in Ordnung, mal nichts zu tun?

Wenn mich jemand fragt, wie es mir geht, antworte ich oft: „Ich habe viel zu tun und kaum Zeit zum Luftholen!“ Dabei kann ich oft gar nicht genau sagen, welche Aktivitäten meinen Terminkalender derart ausfüllen – ich weiß nur, dass die Zeit scheinbar schneller dahinschwindet als ein Eiswürfel an einem heißen Sommertag. Nachdem ich das gesagt habe, nickt mein Gesprächspartner – auch er ist sehr beschäftigt.
Am Ende eines langen Tages genieße ich es, die Häkchen auf meiner To-do-Liste zu betrachten. Ein guter Tag ist ein Tag, an dem ich die meisten oder gar alle Punkte auf meiner Liste abgehakt habe, so denke ich oft. Ich habe viel geschafft. Ich habe etwas beigetragen. Mein Tag hat einen Wert.
Natürlich können Familie, Beruf und der übliche Haushalt die Seiten eines Terminkalenders sehr schnell füllen. Es kostet viel Zeit, sorgfältig all seinen Verpflichtungen nachzukommen, wenn man es wirklich gut machen will. Das kann aber auch leicht dazu führen, dass wir Geschäftigkeit als Mittel zum Zweck betrachten und unbewusst die Abwesenheit von ständigem, hektischem Treiben als minderwertig ansehen.
Es besteht die Gefahr, dass wir den Wert des Nichtstuns aus den Augen verlieren. Manchmal kann eine gewisse kulturelle Ausrichtung – etwa auf Produktivität und Proaktivität – zu einem Ungleichgewicht führen, in dem sie die Lebenswaage auf einer Seite zu stark belastet. Das moderne Leben ist schnelllebig. Der gesellschaftliche Druck treibt uns dahin, noch mehr Leistungsnachweise für unseren Lebenslauf zu erbringen, ein höheres Gehalt zu erzielen oder ein größeres Büro zu ergattern – während gleichzeitig unsere Kinder und Enkel immer mehr außerschulischen Aktivitäten nachgehen.
All das verwirrt den Geist. Es kann dazu führen, dass wir unsere Identität und unseren Wert in dem sehen, was wir tun, sprich, wie viele Kästchen wir abhaken können. Sollten wir uns vielleicht besser auf die weniger greifbaren Werte wie Nächstenliebe, Weisheit, Barmherzigkeit und andere konzentrieren und auf das, was uns ausmacht?
All unsere Aktivitäten tragen dazu bei, wichtige Fragen unseres Lebens in den Hintergrund zu drängen.
Wer viel beschäftigt ist, hat weniger Zeit, über tiefgründige Themen nachzudenken, über die grundlegendsten Dinge wie die Frage „Bin ich glücklich?“.
Echte Werte schaffen
In seinem Buch „Prudence“ schreibt Gregory Pine, Priester des Dominikanerordens:
Viele von uns schieben das Streben nach echtem Glück beiseite und geben sich stattdessen damit zufrieden, einfach nur beschäftigt zu sein.“
Diese ernüchternde Erkenntnis sollte uns innehalten lassen. Ist es möglich, dass wir angesichts eines vollen Terminkalenders etwas Wesentliches übersehen haben? Wozu all diese Hektik? Fördert sie wahres und dauerhaftes Glück? Ist sie sinnvoll? Natürlich werden wir diese Frage oft bejahen und triumphieren. Aber manchmal ist dies nicht der Fall und die leise Stimme in uns, die solche Fragen stellt, geht unter in dem geschäftigen Treiben eines hektischen Tages, in den endlosen Aufgaben, die sich aus all unseren Verpflichtungen ergeben, und in der Jagd sowie dem Drang, alles „erledigen“ zu wollen.
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Pine fordert die Leser heraus und schreibt: „In der Tat gibt es einige Menschen auf der Welt, die wirklich und unausweichlich viel zu tun haben, aber es gibt auch nicht wenige unter uns, die sich einfach dafür entscheiden, ihr Leben mit Aktivitäten aller Art zu füllen … Warum ist das so? Es gibt unzählige Gründe, warum wir uns überfordern … Welchen Grund wir auch immer angeben, die Ursache für unser hektisches Treiben sitzt wahrscheinlich tiefer. Ich vermute, dass viele von uns so viel auf sich nehmen, weil wir das Gefühl haben, dass wir das machen müssen, um unser Dasein zu rechtfertigen.“
Ein solches Bedürfnis entsteht auf natürliche Weise, wenn man von einer Gesellschaft umgeben ist, die – aus gutem Grund – die Erfüllung konkreter Aufgaben wertschätzt. Doch diese Denkweise birgt gewisse Gefahren. Was ist mit den Menschen in unserer Gesellschaft, die im üblichen Sinne des Wortes nicht produktiv sein können? Was ist mit den Gelähmten, die an ihr Zuhause gefesselt sind? Wie sieht es mit geistig Behinderten aus, die nicht auf die übliche Weise ihren Beitrag für die Gesellschaft leisten können? Haben sie dann keinen Wert?
Natürlich haben sie einen Wert! Auch wenn diejenigen, die sich übermäßig auf Geschäftigkeit und Produktivität konzentrieren, diesen nicht erkennen. Ein Mensch, der an seine Wohnung gefesselt ist, kann einigen der wichtigsten menschlichen Aktivitäten nachgehen, ohne dabei im engeren Sinne beschäftigt oder produktiv zu sein. Er kann dennoch Tugend walten lassen, seinen Geist vertiefen, Kunst erschaffen, andere trösten, beten und über die Realität nachdenken.
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Für den antiken Philosophen Aristoteles lag eine besondere Eigenschaft des Menschen in seiner Vernunft, also in seiner Fähigkeit, zu erkennen und zu entscheiden. Das Vorhandensein dieser Kraft – wenn auch nur potenziell – ist eines der Dinge, die jedem Menschen einen inneren Wert verleihen. Unser Wert liegt also nicht nur in dem, was wir tun, sondern auch in dem, wer wir sind.
Darüber hinaus ist eines der wichtigsten Dinge, die wir laut der traditionellen westlichen Philosophie tun, keine „geschäftige“ Tätigkeit – es ist das Gegenteil davon: Kontemplation. Der Philosoph Josef Pieper erklärt in seinem Buch „Glück und Kontemplation“:
„Es ist die Rede davon gewesen, dass die ganze Energie der menschlichen Natur von den Alten als Hunger verstanden worden sei. Hunger – wonach? Nach Sein, nach ungeschmälertem Wirklichsein, nach völliger Realisierung – was jedoch alles miteinander nicht erreichbar ist in der isolierten Existenz des Subjekts, vielmehr einzig durch die Aneignung von Weltwirklichkeit.“
Mit anderen Worten: Die menschliche Seele findet ihre Vollendung in der Vereinigung mit der Realität. Wie kommt es dazu? Durch Kontemplation, also dem Erkennen und Lieben der Wirklichkeit. Pieper schrieb, dass durch Kontemplation „die objektive Welt, soweit sie erkannt ist, zum selbsteigenen Sein des Erkennenden wird“.
Bewusster leben
Wenn wir kontemplative Tätigkeiten wie Lesen, Nachdenken, Spazierengehen, einem Hobby oder tiefgründigen Gesprächen nachgehen, wird uns die Welt bewusster. Wir fühlen uns erfüllter.
Westliche Philosophen – darunter Pieper – gehen sogar so weit zu behaupten, dass wahres Glück in dieser Kontemplation besteht. Genauer gesagt, entsteht das Glück aus der Betrachtung dessen, was wir lieben. Kontemplation ermöglicht uns, das zu besitzen, was wir lieben. Denn etwas zu wissen, ist die tiefste Form des Besitzes. Pieper drückte es so aus:
„Liebe ist also notwendig zum Glück, aber sie ist nicht genug. Erst die Gegenwart des Geliebten macht glücklich, und die verwirklicht sich durch die vergegenwärtigende Kraft des Erkennens.“
Wenn wir in der Gegenwart unserer Liebsten sind, sind wir glücklich.
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Der Prozess beginnt laut Pieper mit dem „schweigendem Vernehmen von Wirklichkeit“. „Schweigend“ ist hier ein Schlüsselwort. Es bedeutet, dass wir manchmal Ruhe und Stille – also Nichtstun – benötigen, um die Welt besser kennen und lieben zu lernen.
Wir müssen nicht immer beschäftigt sein – manchmal müssen wir einfach nur sein.
Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel „Is It OK Not to Be Busy?“. (deutsche Bearbeitung: sua)
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