Tolstois Suche nach dem Lebenssinn

In Kürze:
Vom Grafen zum Pilger: Auf seiner Pilgerreise fand Tolstoi die Verbindung zwischen Einfachheit und spiritueller Erfüllung.
Ablehnung der etablierten Religion: Nach seiner Pilgerreise distanzierte sich Tolstoi von der russisch-orthodoxen Kirche.
Kritik an der Gesellschaft: In seinem Werk „Das Himmelreich in euch“ plädierte Tolstoi für eine Gesellschaft, die auf Mitgefühl und Gewaltlosigkeit basiert und die bestehenden sozialen Ungerechtigkeiten ablehnt.
Hin- und hergerissen zwischen seinen Pflichten und Bedürfnissen, gab Lew Tolstoi, einer der größten Schriftsteller Russlands, seinen vornehmen Lebensstil auf. Später zog er sich zerschlissene Sandalen an und begab sich auf eine Pilgerreise. Das Ergebnis dieser zeigt die enge Verbindung zwischen spiritueller Erfüllung und Einfachheit.
Lew Tolstoi: Graf, Soldat, Schriftsteller
Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi wurde 1828 in der Nähe von Tula in Russland geboren. Er konnte seine Abstammung bis zu einem berühmten Mann namens Indris zurückverfolgen, der im 14. Jahrhundert in die Ukraine ausgewandert war. Indris konvertierte zum orthodoxen Christentum, und dieser Glaube blieb ein fester Bestandteil im Leben seiner Nachkommen.
Tolstois Eltern starben, als er noch sehr jung war. Verwandte zogen ihn zusammen mit ihren eigenen Kindern auf. Mit 16 Jahren begann er ein Jurastudium an der Universität von Kasan, war jedoch von der Qualität der Ausbildung enttäuscht. Seine Lehrer hielten ihn für lernunwillig, sodass er das Studium abbrach, nach Hause zurückkehrte und das gemächliche Leben eines typischen jungen Aristokraten führte.
Die ruhigen Zeiten endeten, als er 1851 in die Armee eintrat. Kurz zuvor hatte er mit dem Schreiben begonnen und sein Bericht aus erster Hand über den Krimkrieg von 1853 bis 1856 wurde zu einem literarischen Erfolg. Während seiner Zeit als Soldat verfasste er mehrere weitere autobiografische Werke.

Lew Tolstoi, Foto von Prokudin-Gorski, 1908. Foto: gemeinfrei
Sechs Jahre später unternahm der inzwischen 29-Jährige seine erste von mehreren Reisen nach Westeuropa. Fernreisen waren unter jungen aristokratischen Intellektuellen wie dem englischen Dichter Lord Byron und dem deutschen Schriftsteller Johann Wolfgang von Goethe weitverbreitet. Tolstoi interessierte sich besonders für Pädagogik und diskutierte ausführlich darüber mit dem umstrittenen sozialistischen Theoretiker Pierre-Joseph Proudhon und anderen gleichgesinnten Denkern.
Von der Möglichkeit inspiriert, seinen Reichtum zur Linderung der Armut einzusetzen, gründete Tolstoi nach seiner Rückkehr ein Netzwerk aus 13 Schulen für die Kinder der ärmsten Bauern Russlands. Die russische Kaiserliche Polizei betrachtete die politischen Neigungen des Grafen jedoch mit Argwohn und stellte das Projekt schnell wieder ein. Obwohl es nur von kurzer Dauer war, ist es eines der frühesten Beispiele für demokratische Bildung im modernen Europa.
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Eine Krise auf dem Höhepunkt seines Ruhms
Während eines Paris-Besuchs wurde Tolstoi Zeuge einer öffentlichen Hinrichtung – etwas, das er sich auf seinem friedlichen Landsitz niemals hätte vorstellen können. Diese Erfahrung hinterließ tiefe Spuren bei ihm. Für ihn war die Regierung dazu da, ihre Bürger zu schützen, und nicht, sie auf einer öffentlichen Bühne zu töten.
Wenn eine Regierung dazu fähig war, dachte Tolstoi, könnte sie ebenso leicht alle Bürger auslöschen. Später schrieb er in einem Essay über Patriotismus: „Daher ist jede Regierung, umso mehr aber eine Regierung, der die militärische Gewalt überlassen ist, ein furchtbares, ja das gefährlichste Institut der Welt.“
In den folgenden Jahrzehnten beschäftigte er sich intensiv mit der Rolle der Regierung, den Pflichten der Bürger sowie mit der Verantwortung von wohlhabenden Adligen und Landbesitzern, wie er selbst einer war. Tolstoi war ein Mann der Extreme, der sich nicht mit einem Mittelweg zufriedengeben wollte. Er fragte sich, ob er trotz der weitverbreiteten Armut um ihn herum weiterhin als Aristokrat leben oder seinen wohlhabenden Lebensstil aufgeben und sich auf die Suche nach einem einfacheren, möglicherweise aber auch erfüllteren Leben begeben sollte.
Der Wendepunkt kam um 1880. Zu diesem Zeitpunkt war Tolstoi bereits einer der berühmtesten Autoren seiner Zeit. Seine beiden Meisterwerke „Krieg und Frieden“ und „Anna Karenina“ hatten ihm weltweiten Ruhm beschert. Doch hinter der Pracht seines Anwesens und der Brillanz seiner Prosa zerbrach der Mann innerlich.

Der zentrale Konflikt in „Anna Karenina“ ist Annas außereheliche Affäre mit einem schneidigen Soldaten. Foto: gemeinfrei
Schließlich beschloss er, seinen Besitz zu verschenken. Er erklärte, dass seine veröffentlichten Werke der Öffentlichkeit gehören sollten. Aus Sorge um die finanzielle Sicherheit ihrer 13 Kinder erwarb seine Frau Sofja Andrejewna Behrs die Urheberrechte für all seine vor 1880 veröffentlichten Bücher. Diese Entscheidung bewahrte den Tolstoi-Besitz vor dem Bankrott.
In „Meine Beichte“, das er während dieser turbulenten Zeit schrieb, schilderte Tolstoi seine inneren Konflikte. Das Buch beginnt mit der orientalischen Fabel vom Drachen im Brunnen. Ein Mann wird in einen Brunnen gejagt, in dem ein Drache lebt. Er klammert sich an einen kleinen Ast, an dem zwei Mäuse nagen. Schließlich wird der Mann in den Rachen des Drachen fallen. Bevor es soweit ist, sieht er ein paar Tropfen Honig auf einem der Blätter des Astes. Er trinkt sie und fühlt sich trotz seines bevorstehenden Todes zufrieden. In Tolstois Version jedoch genießt er den Honig nicht mehr. Die Tropfen symbolisieren die Liebe zu seiner Familie und seinem Schreiben. „Ich konnte zwei Tropfen Honig lecken, die mir einst Trost gespendet hatten“, schrieb er, „doch der Honig schmeckte nicht mehr süß.“ Der Tod machte dem Grafen Angst und ließ alles sinnlos erscheinen.
Tolstoi gab zu, dass sein Weg, dieses existenzielle Dilemma zu bewältigen, zunächst darin bestand, „trotz der Absurdität“ einfach durchzuhalten. Doch er erkannte auch: Das Leben erscheint nur dann hoffnungslos und sinnlos, „wenn es keinen Gott gibt“. Eine Welt mit Gott ist hingegen eine Welt der Hoffnung, in der das Leben über den Tod hinaus weitergeht.
Aber konnte Tolstoi je gewiss sein, dass es Gott wirklich gibt? Um seinen zweifelnden Verstand zu besänftigen, brach der Graf zu einer Pilgerreise auf, die sein Leben grundlegend verändern sollte.
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Tolstois Pilgerreise
Tolstoi war ein sehr sensibler Mensch, der sich schon immer für Religion interessierte. Seit er im Studentenalter zum Atheisten geworden war, blieb dieses Interesse jedoch passiv. In „Meine Beichte“ schrieb er: „Mit achtzehn Jahren glaubte ich nichts mehr von dem, was man mich gelehrt hatte.“ Er dachte entweder intellektuell über Gott nach oder folgte blind den Bräuchen seiner Familie, ohne jemals zu einem bewussten Bekenntnis seines Glaubens zu gelangen. Offensichtlich war nun die Zeit für ein solches Bekenntnis gekommen.
Am 10. Juni 1880 machte sich Tolstoi zu Fuß auf den Weg nach Optina Pustyn, einem entlegenen Kloster und bekannten Wallfahrtsort. Um nicht erkannt zu werden, verkleidete er sich als Bauer. Er verzichtete bewusst auf alle Annehmlichkeiten, an die er gewöhnt war, und wanderte tagelang. Er durchquerte Dörfer und sprach mit Bauern, Bettlern und anderen Pilgern, die wie er auf der Suche nach einer Neubelebung ihres spirituellen Lebens waren.

Drohnenaufnahme des orthodoxen Männerklosters Optina Pustyn Kozelsk, Russland. Foto: nantonov/iStock
Er las die Bibel, betete und brach das Brot mit Mitmenschen, die Demut und Einfachheit verkörperten – zwei Eigenschaften, die er in den prunkvollen Hallen seines Anwesens selten zu Gesicht bekam. Im Kloster sprach er mit „Starets“, den spirituellen Ältesten mit tiefgehendem Wissen über die russisch-orthodoxe Tradition. Sie berichteten ihm aus erster Hand von ihrem wahrhaft hingebungsvollen Leben.
Die Pilgerreise war nicht einfach. Tolstoi hatte kaum etwas zu essen und zu trinken und litt unter schlimmen Blasen an den Füßen. Doch als er mit einfachen Menschen in Kontakt kam, hob sich endlich der Schleier der Privilegien, der ihn immer umgeben hatte. Das Wandern wurde zu einer spirituellen Übung, zu einem Weg, durch selbst auferlegte Entbehrungen Disziplin zu üben.
So erkannte er, dass die Menschen trotz ihrer bitteren Armut ein sinnvolles Leben führten: „Diese Menschen verbrachten ihr Leben mit harter Arbeit und waren weniger unzufrieden mit ihrem Leben als die Reichen.“ Sie ertrugen „Krankheit und Not ohne Fragen oder Widerstand – friedlich und in der festen Überzeugung, dass es nicht anders sein könne und gut sei“. Obwohl das Leben auf dem großen Anwesen unendlich leichter war, fehlte es dort völlig an dem Gemeinschaftsgefühl, das den Menschen Sinn und wahre Zufriedenheit gab.
Neu gefundener Glaube
Am Ende dieser Erfahrung gelangte Tolstoi zu der Überzeugung, dass eine religiöse Gemeinschaft überall gedeihen könne – mit oder ohne offizielle Zustimmung einer institutionellen Autorität oder unterstützt durch wohlhabende Gönner. Er distanzierte sich von der russisch-orthodoxen Kirche, da sie sich seiner Meinung nach zu weit von den ursprünglichen Lehren Jesu, wie sie in den christlichen Evangelien formuliert sind, entfernt hatte. Dennoch hielt er an seinem festen Entschluss fest, ein religiöses Leben zu führen.
Im Gegensatz zu den sozialistischen Denkern, denen er in Westeuropa begegnet war und die Gott leugneten, den Menschen auf seinen Körper reduzierten und Spiritualität als Instrument politischer Manipulation degradierten, war Tolstoi der Ansicht, dass Menschen von Grund auf religiös sind und jede Gemeinschaft, die nach dauerhafter Autonomie strebt, auf einer religiösen Ethik beruhen muss. Für Tolstoi und Christen wie ihn bedeutete diese Ethik unter anderem, durch Gebete mit Gott zu kommunizieren und den Geist über den Körper zu stellen.
Neben seiner Ablehnung organisierter Religion stellte sich Tolstoi auch entschieden gegen staatliche Autorität und Krieg. Er nahm sich das Gebot, seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst, zu Herzen und wandte sich dem Prinzip der Gewaltlosigkeit zu. Es war ihm nicht neu, doch erst die Pilgerfahrt überzeugte ihn, diese Grundsätze endlich fest in seinem privaten und gesellschaftlichen Leben zu verankern.
In seinem 1894 erschienenen Werk „Das Himmelreich in euch“ entwarf Tolstoi die Vision einer Gesellschaft, deren Fundament Gewaltlosigkeit, Mitgefühl und geistige Selbstbestimmung bilden. Darin schrieb er: „Dass dieser gesellschaftliche Aufbau mit seinem Elend, seinen Hungersnöten, Gefängnissen, Galgen, Heeren und Kriegen für die Gesellschaft notwendig sei; dass noch größere Katastrophen eintreten würden, wenn diese Ordnung zerstört würde – dies wird nur von denen gesagt, die an dieser Ordnung verdienen, während die, die darunter leiden, und das sind zehnmal so viele, das genaue Gegenteil denken und sagen.“
Aufgrund seiner außergewöhnlichen Kombination aus Christentum und avantgardistischer politischer Philosophie geriet Tolstoi ins Visier des kaiserlichen Hofes und der russisch-orthodoxen Kirche, die ihn 1901 exkommunizierte. Gegen Ende seines Lebens nahm seine geistige Stabilität immer mehr ab und seine innere Unruhe kehrte zurück. Im Alter von 82 Jahren floh er heimlich in einer kalten Winternacht aus seinem Haus. Er war bereits sehr angeschlagen und starb nur einen Tag später an einer Lungenentzündung.
Tolstois Vermächtnis
Obwohl Tolstoi Christ war, ist seine Geschichte von universeller Bedeutung. Als er mit einer spirituellen Krise konfrontiert war, beschränkte der rastlose Autor seine Reaktion nicht auf das Schreiben oder intellektuelle Überlegungen. Diese waren zwar wichtig, aber er glaubte auch, dass spirituelle Entwicklung aktive Bestrebungen erfordert, die den ganzen Menschen einbeziehen: Körper, Geist und Seele.
Er trug abgetragene Sandalen, nahm nur wenig Essen und Wasser mit und nahm die Strapazen, die eine solche Pilgerreise mit sich brachte, bereitwillig auf sich. Er hörte Männern und Frauen zu, deren Glaube einfach, aber fest war, ungetrübt von Zweifeln und unbelastet von aristokratischen Konventionen. Unabhängig von den Vorzügen seiner theologischen und philosophischen Überzeugungen erinnert uns Tolstoi daran, dass Einfachheit oft der beste Weg ist, spirituelle Erfüllung zu finden.
Dieser Artikel erschien im Original auf The Epoch Times USA unter dem Titel „Leo Tolstoy’s Search for Meaning“. (deutsche Bearbeitung ee)
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