Wenn das Biest das Herz bewegt: Tugendhafte Charaktere und ihre Wirkung

Volksmärchen und Geschichten sind mehr als nur eine Bettlektüre für Kinder, wie mancher vermutet. Wenn man tiefer in sie eintaucht, stößt man auf alte Weisheiten und wichtige Lektionen, die auch für Erwachsene von Bedeutung sind.
Titelbild
Das Gemälde „The Fairy Tale” von James Sant.Foto: Public Domain
Von 2. Juli 2025

In Kürze

Klassische Märchen sind nach Ansicht des Theologieprofessors Vigen Guroian mehr als nur eine Lektüre für Kinder vor dem Schlafengehen.

Die stille Kraft der Symbolik dient nicht nur zur Unterhaltung, sondern kann auch Erwachsene innerlich verwandeln.

Disney-Verfilmungen geben nicht die alten Weisheiten klassischer Märchen wieder.


 

In einer Welt, in der wir täglich mit einer Informationsflut überschwemmt werden, wirken Märchen und Fabeln wie Relikte aus ferner Zeit – kindlich, naiv, vielleicht sogar überholt. Doch der amerikanische Theologieprofessor Vigen Guroian sieht in ihnen etwas ganz anderes: eine Quelle moralischer Vorstellungskraft, die uns hilft, das Leben mit Herz und Verstand zu begreifen.

Nach seiner Ansicht nehmen Märchen und Fabeln einen wichtigen Stellenwert ein. In den 1990er-Jahren begann er, an mehreren Universitäten Geschichten vorzutragen, die er früher seinen Kindern vorgelesen hatte. Der Kurs erfreute sich großer Beliebtheit. Was einst mit 15 Studenten begann, trug dazu bei, dass sich in jedem Semester rund 100 Studenten auf einer Warteliste eintragen ließen. Kein Wunder, der Theologe hatte in den Märchen eine tiefere Bedeutung erkannt, als nur Kinder zu erziehen und zu unterhalten. Er hatte begriffen, dass auch Erwachsene durch die Lektüre ein tieferes Verständnis über das Leben gewinnen können.

In seinem Buch „Tending the Heart of Virtue: How Classic Stories Awaken a Child’s Moral Imagination“ („Das Herz der Tugend pflegen: Wie klassische Geschichten die moralische Vorstellungskraft von Kindern wecken“) erklärt Guroian, dass berühmte Märchen seit Jahrhunderten dazu beitragen, die „moralische Vorstellungskraft“ von Kindern zu fördern.

Diese Vorstellungskraft hat jedoch nichts mit der Aneignung von Fähigkeiten oder Wissen zu tun, sondern mit guten Eigenschaften, die es zu fördern gilt, wie Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, Glaube und Mut, Hoffnung und Besonnenheit. Diese Vorstellungskraft ermöglicht es Menschen, zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht zu unterscheiden und auf Moral basierende Entscheidungen zu treffen.

Mit dem Herzen sehen

Das Märchen „Die Schöne und das Biest“, das in der Regel in seiner französischen Fassung aus dem 18. Jahrhundert bekannt ist, bezeichnet Guroian als „eines der beliebtesten Märchen, weil es die Kraft der ‚guten Charaktereigenschaften‘ verdeutlicht“.

Zu Beginn des Märchens wird ein wohlhabender Kaufmann mit seinen drei schönen Töchtern vorgestellt – die Schönste von allen ist die Jüngste, Belle. Immer wieder werden ihre innere Schönheit und ihr guter Charakter hervorgehoben. Im Gegensatz zu Belle werden ihre Schwestern als stolz, selbstsüchtig und überheblich beschrieben. Sie machen sich lustig über ihre kleine Schwester, die die meiste Zeit hinter Büchern verbringt, freundlich mit armen Menschen spricht und ihren Vater über alle Maßen liebt.

Der scharfe Kontrast zwischen Bells Güte und der Boshaftigkeit ihrer Schwestern, die durch deren Äußeres kaschiert wird, spiegelt sich auch in der Erscheinung des Biests wider, das rein äußerlich abstoßend wirkt, aber dennoch über ein gutes Herz verfügt. Belle sagt sogar, dass es das Biest all denen vorzieht, die hinter ihrer menschlichen Gestalt „ein verräterisches, verdorbenes und undankbares Herz verbergen“.

Aufgrund ihres guten Herzens und ihrer Moral gelinge es Belle, hinter dem scheußlichen Aussehen des Biests dessen gute Eigenschaften zu erkennen, so Guroian. Die wichtigste Botschaft des Märchens bestehe darin, dass die Schwestern niemals hinter dem hässlichen Äußeren des Biests seinen guten Kern erkennen können – das sei nur einem Menschen mit guten Eigenschaften vorbehalten.

Doch das ist noch nicht alles, wie Guroian erklärt. Die Entscheidungen, die ein Mensch in seinem Leben trifft, formen ihn. Am Ende der Geschichte erhält Belle die Belohnung für ihr tugendhaftes Verhalten: Sie heiratet den Prinzen, der in das Biest verwandelt worden war, und wird eine mächtige Königin. Ihre Schwestern hingegen, die ihre Männer nur aufgrund ihrer Schönheit und Klugheit ausgewählt haben und deren Herzen versteinert sind, führen keine glückliche Ehe – der Preis dafür, dass sie sich von Gier, Neid und Eitelkeit verleiten lassen haben.

Ewige Seele statt Traumhochzeit

Ein weiteres Beispiel ist die Geschichte von der kleinen Meerjungfrau, deren ursprüngliche Fassung sich stark von der Disney-Verfilmung unterscheidet. In dem Märchen des dänischen Autors Hans Christian Andersen aus dem Jahr 1862 gibt es im Gegensatz zum Film kein Happy End mit romantischer Hochzeit, sondern eine für das Leben sehr wertvolle Lektion.

Die kleine Meerjungfrau sehnt sich danach, die Welt außerhalb des Meeres kennenzulernen, und sucht in ihrer Neugier den Meeresgrund nach Dingen aus der Menschenwelt ab. Dabei stößt sie auf die Statue eines Prinzen und beginnt, diesen zu verehren. Als sie ihre alte, weise Großmutter nach der Seele der Menschen befragt, wird sie hellhörig. Denn im Vergleich zu Meerjungfrauen, die etwa 300 Jahre alt werden, hat der Mensch eine viel kürzere Lebenserwartung. Da er jedoch eine unsterbliche Seele besitzt, lebt er im Paradies weiter, erzählt die Großmutter. Die Meerjungfrauen hingegen verwandeln sich bei ihrem Tod in Meeresschaum und besiegeln damit das Ende ihrer Existenz.

„Ich möchte alle meine Hunderte von Jahren, die ich zu leben habe, dafür geben, um nur einen Tag ein Mensch zu sein und dann hoffen zu können, Antheil an der himmlischen Welt zu haben“, verkündet die kleine Meerjungfrau. Doch davon rät die Großmutter ihr dringend ab – sie dürfe nicht einmal an so etwas denken, meint sie. Doch die Meerjungfrau lässt nicht locker. Sie will wie der Mensch eine unsterbliche Seele gewinnen.

Darauf antwortet die Großmutter: „Nur wenn ein Mensch Dich so lieben würde, daß Du ihm mehr als Vater und Mutter wärest; wenn er mit all seinem Denken und all seiner Liebe an Dir hinge und den Prediger seine rechte Hand in die Deinige, mit dem Versprechen der Treue hier und in alle Ewigkeit, legen ließe: dann flösse seine Seele in Deinen Körper über, und auch Du erhieltest Antheil an der Glückseligkeit der Menschen. Er gäbe Dir Seele und behielte doch seine eigene. Aber das kann nie geschehen! Was hier im Meere gerade schön ist: Dein Fischschwanz, finden sie dort auf der Erde häßlich; sie verstehen es eben nicht besser; man muß dort zwei plumpe Stützen haben, die sie Beine nennen, um schön zu sein!“

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Auf der Suche nach der ewigen Seele schließt die Meerjungfrau schließlich einen Pakt mit der Meerhexe und gibt ihre wunderschöne Stimme im Tausch für zwei Beine her. Doch bei jedem Schritt fühlt es sich so an, als ob sie auf ein scharfes Messer tritt. Der Pakt jedoch ist noch an eine Bedingung geknüpft: Sie muss den Prinzen heiraten, ansonsten stirbt sie.

Als der Prinz sich in eine Prinzessin verliebt, akzeptiert die Meerjungfrau ihr Schicksal schweren Herzens – aber mutig und ohne zu klagen. Kurz bevor die Morgendämmerung anbricht und sie sich in Schaum verwandelt, erfährt sie jedoch, dass ihre Schwestern einen neuen Pakt mit der Meerhexe geschlossen haben. Demnach müsse sie den Prinzen ins Herz stechen, damit sein warmes Blut ihre Füße berührt und sie wieder zur Meerjungfrau wird. Die Versuchung ist groß. Dennoch trifft die Meerjungfrau eine moralische Entscheidung: Sie gibt alles auf – selbst ihre Angst vor dem Tod.

Als sie bei Sonnenaufgang ins Wasser springt, verwandelt sie sich jedoch nicht in Meeresschaum, sondern wird zu ihrer Überraschung von den Sonnenstrahlen gen Himmel getragen, wo sich die Töchter der Luft ihrer annehmen. Dank ihres selbstlosen Herzens konnte die kleine Meerjungfrau ihrem dunklen Schicksal entkommen und doch noch eine unsterbliche Seele in der Welt der Lufttöchter erlangen.

Laut Guroian besteht die Botschaft des Märchens von der kleinen Meerjungfrau nicht darin, dass sich das Leiden lohnt, um einen gut aussehenden Prinzen zu treffen. Es gehe vielmehr darum, die Gefahr zu erkennen, wenn man einen Pakt mit dem Teufel schließt.

„Der Teufel nutzt unser persönliches Leid, unsere größten Hoffnungen und Ängste aus, um uns zur Sünde zu verführen“, erklärt der Theologe.

Von der Furcht zur Erkenntnis

Auch der bekannte Disney-Film „Bambi“ unterscheidet sich von dem Originalroman, der in den 1920er-Jahren von dem jüdischen Schriftsteller Felix Salten verfasst wurde. Im Wesentlichen geht es in der Geschichte darum, wie Bambi durch seine Beziehung zu den Waldtieren heranreift. Als Bambi verloren und verängstigt im Wald nach seiner Mutter sucht, stellt ihn der Alte, der große Hirsch des Waldes, zur Rede. „Warum rufst du?“, will er wissen. „Deine Mutter hat jetzt nicht Zeit für dich“, fährt er mit gebieterischer Stimme fort. „Kannst du nicht allein sein? Schäm dich!“

Diese Begegnung trifft Bambi tief ins Herz. Er „wollte sagen, daß er ganz gut allein sein könne, daß er schon oft allein gewesen sei, aber er brachte nichts heraus. Er war gehorsam und schämte sich fürchterlich.“

Als seine Mutter zurückkam, erzählte ihm Bambi nichts von dieser Begegnung. Und auch später rief er nicht mehr nach ihr, wenn sie verschwand. Er hatte seine Lektion gelernt.

Mit großem Einfühlungsvermögen beschreibt Salten Bambis Reaktion, nachdem ein junger Hirsch von einem Jäger erschossen wurde: „Er fühlte sich von etwas Dunklem bedroht, er verstand nicht, wie die anderen so heiter und sorglos sein konnten, wenn doch das Leben so schwer und so gefährlich war. In dieser Stunde ergriff ihn das Verlangen, weit fort zu gehen, immer tiefer und tiefer in den Wald hinein. Ihn lockte es jetzt, sich dorthin zu wenden, wo es am dichtesten war, einen Schlupfwinkel zu suchen, wo man, weit und breit umgeben von undurchdringlichen Hecken, gar nicht gesehen werden konnte.“

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Bambi musste jedoch nicht nur lernen, mit dem Tod seiner Freunde umzugehen, sondern auch den Umgang mit dem Menschen. Im Roman ist nur von „Er“ die Rede – einer fast gottähnlichen Figur, die über Tod und Leben entscheidet, unerwartet Tiere tötet und damit alle Bewohner des Waldes in Angst und Schrecken versetzt. Von großer Bedeutung für Guroian ist eine Szene, in der Bambi mit dem alten Hirsch einen toten Menschen im Wald findet. Der Alte erklärt:

„Höre, Bambi, Er ist nicht allmächtig, wie sie sagen. Er ist es nicht, von dem alles kommt, was da wächst und lebt. Er ist nicht über uns! Neben uns ist Er und ist wie wir selber, denn Er kennt wie wir die Angst, die Not und das Leid. Er kann überwältigt werden gleich uns, und dann liegt Er hilflos am Boden, so wie wir andern, so wie du Ihn jetzt vor dir siehst.“

Und Bambi kommt zur Erkenntnis: „Ein anderer ist über uns allen . . . über uns und über Ihm.“

Eine zentrale moralische Botschaft in dieser Geschichte sieht der Theologe darin, dass der Mensch sterblich und verletzlich ist. Er ist Teil der Schöpfung – nicht aber der Schöpfer selbst.

Ob Belle, die ein gutes Herz über Äußerlichkeit stellt, die kleine Meerjungfrau, die sich für Seelenfrieden statt Eigennutz entscheidet, oder Bambi, der durch Schmerz zur Erkenntnis gelangt – sie alle laden uns ein, tiefer zu blicken: hinter die Fassaden unseres Gegenübers, mitten ins Herz des Menschseins.

Dieser Artikel erschien im Original in der israelischen Epoch Times unter dem Titel „חוכמת האגדות והמשלים“. (deutsche Bearbeitung: sua)


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