Wenn Tyrannen Pelze tragen – Fabeln als zeitlose Ratgeber für Jung und Alt

In Kürze:
- Macht und Moral im Tiergewand: Die Fabeln „Der Wolf und das Lamm“ und „Die pestkranken Tiere“ zeigen eindrücklich, wie Machtmissbrauch, Sündenbocksuche und moralische Verblendung in unterhaltsamen Tiergeschichten entlarvt werden.
- Universelle Werte über Generationen: Ob als literarisches Gleichnis oder philosophisches Sinnbild – Fabeln vermitteln universelle Werte, die kulturelle und religiöse Grenzen überwinden und unsere Menschlichkeit stärken.
Egal, ob scheinheilige Gerechtigkeit oder vernebelte Wahrheit – Fabeln, die moralische Werte auf unterhaltsame und anschauliche Weise vermitteln, bieten Lesestoff für Groß und Klein. Sie sind aber nicht nur literarische Kunstwerke, sondern ein Spiegel sozialer Ungerechtigkeit.
Der vermutlich im 6. Jahrhundert v. Chr. lebende altgriechische Geschichtenerzähler Äsop schuf zahlreiche Gleichnisse, die noch heute als Redewendung bekannt sind – wie „Der frühe Vogel fängt den Wurm“ aus der Fabel „Die Ameise und die Heuschrecke“. Auch wenn wissenschaftlich nicht eindeutig belegt ist, ob Äsop tatsächlich existiert hat, prägen seine Fabeln ebenso wie die von anderen bekannten Dichtern unsere Kultur bis heute.

Von Arthur Rackham. Foto: Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=10844276
Zwei weniger bekannte Fabeln sind Äsops „Der Wolf und das Lamm“ und die aus der Feder des französischen Fabeldichters Jean de La Fontaine stammende Geschichte „Die pestkranken Tiere“.
In der Fabel „Der Wolf und das Lamm“ geht es um Tyrannei: Ein hungriger Wolf stößt auf ein schutzloses Lamm, das am Ufer eines Baches trinkt, und will es fressen. Um sein Vorhaben moralisch zu rechtfertigen, erfindet er immer wieder neue Vorwände.
Er wirft dem Lamm vor: „Warum trübst du mir das Wasser, das ich trinken will?“ Doch dieses bestreitet die Anschuldigungen. Es befinde sich stromabwärts, der Wolf hingegen stromaufwärts. „Das Wasser fließt ja von dir zu mir!“, erwidert das Lamm. Es käme ihm auch niemals in den Sinn, dem Wolf etwas Böses anzutun.
Daraufhin greift der Wolf zu einem neuen Argument: „Du machst es gerade, wie dein Vater vor sechs Monaten; ich erinnere mich noch sehr wohl, daß auch du dabei warst, aber glücklich entkamst, als ich ihm für sein Schmähen das Fell abzog!“
Erneut verneint das Lamm und verweist darauf, dass es erst vier Wochen alt und sein Vater schon lange tot sei. Wie könne es etwas für seinen Vater verbüßen?
Schließlich wird dem Wolf die Unterredung zu bunt. „Tot oder nicht tot, weiß ich doch, daß euer ganzes Geschlecht mich hasset, und dafür muß ich mich rächen!“
Mit diesen Worten springt er über den Bach, schnappt sich das Lamm und frisst es auf.
Und die Moral: „Das Gewissen regt sich selbst bei dem größten Bösewichte“, schreibt Äsop. Aber ein Tyrann wird immer eine Entschuldigung für seine Tyrannei finden.
Scheinheiligkeit kennt keine Buße
Auch in der Fabel „Die pestkranken Tiere“ geht es um Macht, Schuld und Scheinheiligkeit. Aufgrund einer nie gekannten Epidemie versammeln sich verschiedene Tiere, um der Lage Herr zu werden. Der Löwe, König der Tiere, sieht nur eine Lösung, um das „verderbenschwangre Unheil“ abzuwenden. Er verlangt von seinen Untertanen, ihre Sünden zu bekennen – und wer am meisten gesündigt habe, der solle für alle sein Leben opfern.
Mit gutem Beispiel geht der Löwe voran und sagt: „Was mich betrifft, so hab‘ ich aus Gefräßigkeit manch armes Schaf dem Tod geweiht.“ Und auch ein Hirte sei ums Leben gekommen.
Daraufhin tritt der Fuchs hervor und spricht den Löwen mit Schmeicheleien von seiner Schuld frei: „Schafe fressen, dies Pack, das dumm und so gemein ist, heißt Sünde das? Nein, nein! Daß Ihr sie würgtet, war, für sie ’ne Ehre noch sogar.“
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Und egal, welches der folgenden Tiere seine Missetaten beichtet, ein Unrecht will sich bei ihnen nicht erkennen lassen. Doch mit dem Esel wendet sich das Blatt. Er gesteht, dass ihn „irgendein Teufel verführt“ habe, als er vom Hunger getrieben das frische Gras einer Klosterwiese abfraß, „soweit die Zunge reichte“. Er gesteht: „Ich hatt‘ kein Recht dazu, wenn ich soll ehrlich sein.“
Daraufhin stürmen die anderen Tiere auf ihn los und beschuldigten ihn, als „räud‘gen Lump“, der Unheil über sie gebracht habe. Wie konnte er es nur wagen! „Zu fressen fremdes Gras! Welch schmähliches Verbrechen!“, da waren sich alle Tiere einig. „Der Tod allein vermag’s zu rächen!“ Und so kam es, dass der Esel geopfert wurde.
Die vom Löwen befohlene Beichte diente in Wirklichkeit nicht der Suche nach der Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern stellte sich als Suche nach einem Sündenbock heraus. Und die Moral von der Geschichte: Wer ehrlich ist, aber ohne Einfluss, wird am Ende geopfert.
Moral als universeller Wert
Egal, ob Geschichten von Äsop, de La Fontaine oder andere Gleichnisse aus aller Welt: Sie alle tragen die Wahrheit in sich und überschreiten kulturelle und religiöse Grenzen. Moral ist universell und appelliert an die uns innewohnende Menschlichkeit.
Der britische Philosoph Roger Scruton schreibt in seinem Buch „Culture Counts: Faith and Feeling in a World Besieged“ (Kultur zählt: Glaube und Gefühl in einer belagerten Welt): „Unsere Zivilisation wurde entwurzelt. Aber wenn ein Baum entwurzelt wird, stirbt er nicht immer. Vielleicht vermag der Stamm weiterhin, seinen Saft zu den Ästen auszusenden, und jedes Frühjahr können die Blätter wieder wachsen, mit neuer Hoffnung.“
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Legenden und Gleichnisse gehören zu den uralten Wurzeln dieses faszinierenden Baumes. Wenn wir diese Geschichten und ihre Moral an unsere Kinder weitergeben, sie lesen, über ihre Bedeutung nachdenken und sie als solide Richtlinien für ein aufrichtiges Leben in unseren Herzen tragen, dann halten wir diesen Baum am Leben.
Dieser Artikel erschien im Original in der israelischen Epoch Times unter dem Titel „חוכמת האגדות והמשלים“. (deutsche Bearbeitung: sua)
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