Diskretion, bitte!

Kürzlich saß ich des Morgens wieder, wie so oft, in meiner Lieblingstagesbar bei einem grandios zubereiteten Americano. Ein Mann um die fünfzig, viel Energie, wenig Haare, betrat die Bühne, suchte sich einen Platz, klappte Laptop und Mundwerk auf. Mit diesen weißen Hörgeräten in den Ohrmuscheln begann er, mit einem Freund zu telefonieren. Seitdem weiß ich – er saß gute 5,8 Meter und fünf Tische entfernt –, dass er vom Grillabend zuvor nicht viel hielt, weil der Gastgeber ein Riesengewese um 15 zu grillende Steaks gemacht habe; er selbst, so ließ er beiläufig fallen, hätte nebenbei noch die Steuererklärung eines Kunden erledigen können. Er ist ein fetter Hecht im Teich, der Tonfall überließ keinen Zweifel. Es folgten Überlegungen zur „cleveren Fakturierung“ von 8 Millionen Euro sowie andere Steuerschlaumeiereien.
Nichts davon interessierte mich im Entferntesten; ich wurde gestört – aus meinem Kaffee, aus meiner Gedankenordnung, aus dem vorsichtigen Sortieren des bevorstehenden Tages gerissen. Bei leisem Kaffeehausgemurmel gelingt mir das zuverlässig – ein bekanntes Phänomen, das die Konzentration begünstigt, mag es nun in Studien belegt oder bloß lebensklug beobachtet sein. Doch ich schweife ab.
Resonanz wird verwechselt mit Reichweite
Zurück zur kleinen, unfreiwilligen Liveserie: Dreißig Minuten später betrat seine Frau-Freundin-Lebensabschnittsgefährtin-Verlobte – wer weiß das schon – die Tagesbar, setzte sich ihm gegenüber, nicht ohne öffentliche Begrüßungsknutscherei. Schlagartig wurde der Mann leise, intim, hielt er sie mit beiden Händen – die Unterarme auf dem Tisch – die Vergötterte an den ihrigen. „Na bitte“, dachte ich, „der Lautstärkeregler ist intakt“.
Was ist es, das Menschen zu öffentlichen Lautsprechern werden lässt und ihr Umfeld zur unfreiwilligen Teilhabe nötigt? Ist es die von vielen diagnostizierte Ichfixierung unserer Tage – jene ernste, gleichwohl leise Parodie einer Selbstbehauptung? Oder ist es ein akustischer Irrtum der Technik: Ohrstöpsel, die die Welt wegfiltern und das eigene Timbre verfälschen, sodass der Sprecher ins akustische Vakuum hinein lauter wird – ein Alltagsbeispiel für den Lombard-Effekt, dieses uralte Reflexprogramm, bei Umgebungsgeräuschen den Sprechpegel zu erhöhen?
Gewiss spielt auch das Posen eine Rolle: das Smartphone als scheckkartengroße Bühne, auf der das eigene Leben nicht einfach gelebt, sondern fortwährend aufgeführt wird. Faszinierend ist, es gibt immer mehr Lautsprecher, gerade auch jene, die nicht telefonieren. Offen posend posaunen.
Und doch liegt – tiefer als diese Oberflächenmechanik – ein Widerspruch. Nie zuvor wurden so viele Ratgeber gelesen, so viele Podcasts gehört, so viele Gebote zur Achtsamkeit ausgesprochen. Die Stapel der Selbstcoaching-Literatur erreichen inzwischen die Höhe des Burj Khalifa. Aber zwischen der Hochglanztitelseite „Self-Care“ und der simplen Tugend „Leise sein, wenn andere anwesend sind“ klafft ein Abgrund. Selbstoptimierung verwechselt sich mit Selbstaufblähung; Resonanz – das zarte Mitschwingen mit einer Umgebung – wird verwechselt mit Reichweite. Man kümmert sich um das eigene Innere wie um ein Projekt, aber nimmt die Nachbartische nicht mehr wahr.
Ein Missverständnis von Öffentlichkeit
Vielleicht ist es ein Missverständnis von Öffentlichkeit. Der öffentliche Raum ist kein Niemandsland und kein Jeder-für-sich-Territorium, sondern ein zwischenmenschliches Dazwischen, das nur unter einer Bedingung gelingt: Diskretion. Diskretion ist nicht Geheimnistuerei, sondern eine Form von Takt – die Kunst, sich selbst zurückzunehmen, ohne sich zu verleugnen.
Im europäischen Kaffeehaus war sie einmal Grundgerüst: ein Murmelpegel, der Gedanken trägt, nicht zerschlägt. Wer laut wird, hat nicht automatisch recht; er hat nur dem Leiseren Unrecht getan. Und wer leise ist, ist nicht schwach; er nimmt teil, ohne zu dominieren. Der Mann mit den weißen Ohrgeräten ist ein Typus, keine Ausnahme. Er ist die Summe kleiner kultureller Verschiebungen. Das Telefon, einst an die Wand gefesselt, bat um Erlaubnis: Man wählte, man wartete, man sprach. Die Telefonzeit war segmentiert, nicht allgegenwärtig.
Heute ist die Stimme mobil und die Erwartung total – erreichbar, jetzt, sofort. Das Gespräch findet nicht mehr zwischen zwei Menschen statt, sondern über ihnen wie ein ballonartiges Sendegebilde, das alle Anwesenden beschattet. Wer so spricht, behauptet unbewusst: Mein Jetzt ist wichtiger als euer Hier. Technik verstärkt, was Haltung vorgibt. Noise-Cancelling verschleift den Saalpegel, Transparenzmodi geben eine Kulisse vor, die nicht die wirkliche ist. Man hört sich selbst anders – zu wenig, zu verfärbt, zu wichtig. Die kleine Paranoia, nicht gehört zu werden, kippt in den kleinen Narzissmus, gehört werden zu müssen.
Mitgefühl ist nicht Pathos, sondern Maß
Ein altbekannter Theatertrieb sorgt für den Rest: Wenn eine Bühne vorhanden ist, wird gespielt. Und das Smartphone ist immer Bühne. Selbst das Geschäftsgeheimnis wird am Lattenzaun der Lautstärke aufgehängt – Nebeneffekt einer Zeit, die Vertraulichkeit als entbehrlich betrachtet und Diskretion für provinziell hält.
Hier beginnt die Moral, die keine Moral sein will: Mitgefühl ist nicht Pathos, sondern Maß. Es misst die eigene Gegenwart an der Gegenwart der anderen. Es fragt: Wie viel Raum nehme ich? Wie viel lasse ich? Die Antwort ist schlicht: so viel, dass der Nachbar weiterdenken kann. Und falls man wirklich Wichtiges zu besprechen hat – es gibt die Straße, den Flur, den kurzen Gang vor die Tür. Wer das nicht tut, verdient nicht den Vorwurf der Unkultur – das Wort wäre zu groß –, sondern den nüchternen Hinweis auf einen Verlust: den Verlust der Fähigkeit, sich in eine Situation einzufügen, ohne sie zu dominieren.
Es gab Orte, die diese Fähigkeit schützten. Im Schumann’s weltbekannter Bar zum Beispiel – der Legende und dem eigenen Erleben nach – waren Telefonate lange verpönt. Ein Blick des Barkeepers genügte als Raisonruf: Wir sind viele, benehmen wir uns so, dass alle bleiben möchten. Das war nicht repressiv, es war zivilisiert. Man hielt den Raum sauber, nicht nur die Gläser.
Formulierungen wie Werkzeuge
Was also tun in Zeiten, da jeder Taschenfunk ein Megafon sein kann? Man kann sich empören – das hilft dem Blutdruck, selten dem Frieden. Man kann es ignorieren – das funktioniert, bis der Monolog die Poren füllt. Am wirksamsten ist eine kleine Rückkehr zur Sprache als Werkzeug der Zivilität: höflich, präzise, ohne Aggression. Ein leiser Satz, der nicht brandmarkt, sondern erinnert. Wer so spricht, bietet keine Kränkung an, sondern eine Orientierung. Oft reicht das. Formulierungen, die sich bewährt haben:
– „Entschuldigen Sie, dürfte ich Sie bitten, etwas leiser zu sprechen? Man hört jedes Wort bis hierher.“
– „Verzeihung, ich möchte Ihr Gespräch nicht mithören. Wäre es möglich, den Ton etwas zu senken?“
– „Kleiner Hinweis: Ihre Stimme trägt sehr weit. Danke, wenn Sie’s ein wenig dämpfen.“
– „Wenn es ein wichtiges Telefonat ist: Draußen ist es ruhiger – hier stört es leider viele.“
– Zum Personal: „Könnten Sie bitte freundlich um etwas Ruhe bitten? Es ist sehr laut geworden.“
Diese Sätze sind nicht heroisch. Sie sind Werkzeuge wie Messer und Gabel. Man benutzt sie, damit das Gemeinsame genießbar bleibt. Wer sie spricht, nimmt sich nicht wichtiger als den anderen – er nimmt beide ernst. Und erstaunlich oft geschieht das kleine Wunder, das ich an jenem Morgen sah: Der Lautstärkeregler wird gefunden. Es geht also. Es ging immer.
Vielleicht lautet die eigentliche Lektion: Wir brauchen keine neuen Regeln, nur die Wiederentdeckung einer alten Kunst – die Kunst, den eigenen Radius zu kennen. Leise ist nicht langweilig. Leise ist ein Angebot. Es lässt Platz für den Americano, den Gedanken und die Möglichkeit, dass aus dem Nebentisch kein Nebengeräusch, sondern ein Mitmensch wird.
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion