Rousseau und die Kunst, man selbst zu sein

In „Bekenntnisse“ stellte Jean-Jacques Rousseau sich ohne Verklärung dar. Doch was bedeutet es, authentisch zu leben, in einer Gesellschaft, die uns ständig fordert, „wir selbst“ zu sein?
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Foto: Natalya Kosarevich/iStock, gemeinfrei
Von 27. Juli 2025

In Kürze:

Authentizität als wahre Freiheit: Rousseau glaubte, wahre Freiheit liege darin, im Einklang mit dem natürlichen Selbst zu leben, das durch gesellschaftliche Normen verdeckt wird.

Gesellschaftliche Masken: Laut Rousseau sind moderne gesellschaftliche Normen und Bestrebungen nach Bestätigung unecht und hinderlich für das echte Leben.

Rousseau sah Authentizität nicht als Freibrief für Rücksichtslosigkeit – Höflichkeit und Empathie seien auch in einer ehrlichen Gesellschaft wichtig.

Freiheit und Anpassung: Rousseau betonte, dass wahre Freiheit darin liege, die sozialen Normen zu erkennen und sich ihnen, wenn nötig, zu widersetzen.


 

„Ich plane ein Unternehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausführung auch niemals einen Nachahmer finden wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller Wahrheit der Natur zeigen, und dieser Mensch werde ich sein.“ — Jean-Jacques Rousseau, „Bekenntnisse“

Der Weg zur Authentizität

Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) predigte nicht nur Aufrichtigkeit, sondern versuchte auch, sie zu leben – auch wenn das bedeutete, sich selbst in einem wenig schmeichelhaften Licht zu zeigen. In seinem Werk „Bekenntnisse“ gab er bekannt, dass er seine fünf Kinder in die Obhut eines staatlichen Waisenhauses gegeben hatte, wo sie aller Wahrscheinlichkeit nach starben. 

Das ist tragisch, falsch und verstörend. Bemerkenswert ist jedoch, wie er uns davon erzählt, ganz ohne Selbstrechtfertigung oder Beschönigung. Er behauptet, er schreibe nicht, um zu beeindrucken, sondern nur, um ehrlich zu sein. Er sucht keine Bewunderung, sondern lediglich den kalten Trost, die Wahrheit gesagt zu haben – auch wenn er dadurch schlecht dasteht.

Anders als in der modernen Autobiografie oder in einem YouTube-Vlog, in dem jemand weint und anschließend seine Merchandise-Artikel bewirbt, inszeniert Rousseau keine Tugend. Er versucht vielmehr, gar nichts zu inszenieren. Ihm geht es einzig und allein darum, echt zu sein.

„Sei du selbst“, das ist der Leitspruch unserer Gegenwart. Ob Instagrammer, TikToker, populärwissenschaftliche Psychologiemagazine, Selbsthilfebücher oder sogar Müslipackungen – überall wird es gepredigt. Es scheint allgegenwärtig. Der Wunsch, nicht nur natürlich zu wirken, sondern tatsächlich „echt“ zu sein, bestimmt unseren Alltag. Doch hinter dieser modernen Besessenheit von Authentizität steht ein Philosoph des 18. Jahrhunderts, der sich bereits mit dieser Idee beschäftigte, lange bevor es Bildbearbeitungsprogramme und Filter gab.

Rousseau hätte LinkedIn-Biografien heutzutage vermutlich ähnlich betrachtet wie damals die gepuderten Perücken: gekünstelt, steif und gähnend langweilig. Er war überzeugt, dass wahre Freiheit nicht darin besteht, einfach das zu tun, was man will, sondern im Einklang mit dem eigenen natürlichen Selbst zu leben. Dieses Selbst liegt jedoch unter gesellschaftlichen Normen, Etiketten und vor allem unserem unstillbaren Verlangen nach Bestätigung begraben.

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Die Notwendigkeit der Aufrichtigkeit

Für Rousseau war Aufrichtigkeit nur im privaten Leben möglich, da soziale Beziehungen von Normen, Erwartungen und moralischer Selbstdarstellung geprägt waren. Die moderne Gesellschaft hat den Menschen zu einem weiterentwickelten Affen gemacht, der eine soziale Leiter aus bloßem Schein erklimmt. Die einen verstecken sich hinter Filtern und sorgfältig kuratierten Internetbeiträgen, die anderen präsentieren akademische Titel oder berufliche Erfolge. Die Plattformen mögen unterschiedlich sein, doch das Ziel bleibt dasselbe: gesehen, bewundert und anerkannt zu werden.

Und all das war für Rousseau nicht nur unecht, sondern auch schädlich. Genau deshalb löste er etwas aus, das man als „Authentizitätskult“ bezeichnen könnte: eine gegenkulturelle Rebellion, die sich dem gesellschaftlichen Leben als bloßes Schauspiel widersetzte.

Seien wir ehrlich: Die Gesellschaft braucht diese öffentlichen Moralvorstellungen, damit sie funktioniert. „Danke“, sagt einer, obwohl er am liebsten losschreien wollte. „Schönes Wetter heute“, murmelt eine inmitten ihrer existenziellen Krise. „Lass uns dann mal zusammen essen gehen“, sagen zwei, die beide insgeheim hoffen, dass es nie passieren wird.

Diese höflichen Unwahrheiten tragen zu einem friedlichen und erfolgreichen Zusammenleben bei. Es gibt also gute Gründe dafür, den Schein zu wahren. Rousseau geht vielleicht zu weit, wenn er behauptet, Ehrlichkeit sei der höchste Wert der Gesellschaft. Dieser Ansatz könnte leicht zu einer Welt führen, in der Grausamkeit als Ehrlichkeit gerechtfertigt wird. Hier müssen wir vorsichtig sein: Schließlich wollen wir nicht, dass Serienmörder oder hemmungslose Narzissten unter dem Deckmantel der „Selbstverwirklichung“ ihr Unwesen treiben.

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Gesellschaftliche Heuchelei und die Suche nach Selbstbestimmung

Trotzdem spricht Rousseau eine unbequeme Wahrheit aus: Unsere Besessenheit, im Internet einfach „wir selbst zu sein“, hat selten etwas damit zu tun, dass wir tatsächlich wir selbst sind. Was wir wirklich wollen, ist, auf eine Art und Weise natürlich zu wirken, die uns immer noch Likes, Follower und Werbedeals einbringt. Wir legen unsere Masken nicht ab, sondern setzen nur eine neue auf – mit dem Etikett „authentisch“. Es ist dieselbe alte Inszenierung – nur mit besserer Beleuchtung und einem Hashtag für Selbstfürsorge.

Es ist so, als würde man auf eine Verkleidungsparty gehen als „jemand, der nicht verkleidet ist“ – man hat allerdings drei Stunden gebraucht, um dieses Outfit zusammenzustellen.

Ist echte Authentizität – und damit echte Freiheit – also vielleicht nur noch außerhalb der Gesellschaft möglich?

Laut Rousseau ist das der Fall. In seinem Buch „Émile oder Über die Erziehung“ soll das Kind deshalb ohne gesellschaftliche Vergleiche erzogen werden. Rousseau vertrat die radikale Idee, ein Kind ohne gesellschaftliche Einflüsse zu erziehen, damit sich sein natürliches Selbst ungehindert entfalten kann.

Das einzige Buch, das Rousseau seinem Émile zu lesen erlaubt, ist „Robinson Crusoe“ – und das nicht ohne Grund. Crusoes Geschichte verkörpert das Ideal der Selbstgenügsamkeit: Ein Mann lernt, durch Vernunft und direkte Erfahrung zu überleben, statt sich auf Meinungen aus zweiter Hand zu verlassen. Crusoe ist allein, aber frei. Keine sozialen Spielchen, keine Prestigewettkämpfe, keine Likes. Genau solche Menschen wollte Rousseau heranbilden: Menschen, die ihre Identität aus dem Inneren heraus formen, nicht durch Bestätigung von außen.

Später muss sich Émile selbstverständlich wieder in die Gesellschaft integrieren und lernen, sich ihrem Rhythmus anzupassen. Die Zivilisation hat durchaus ihre Vorteile – Rousseau hat uns nicht dazu aufgefordert, gänzlich aus der Zivilisation zu fliehen und wie Urmenschen zu leben. Er war jedoch der Meinung, dass Menschen die soziale Heuchelei um sich herum erkennen sollten, selbst wenn sie mitspielen müssen.

Letztlich sollte man sich dennoch zu benehmen wissen. Authentisch zu sein, heißt nicht, rücksichtslos zu sein. Gute Manieren zählen nach wie vor – selbst Rousseau, so radikal er auch war, hätte es nicht gutgeheißen, wenn man beispielsweise als Ausdruck von Ehrlichkeit auf den Tisch spuckt.

Wie der russische Schriftsteller Anton Tschechow einmal bemerkte – auch wenn sich das Zitat nur schwer eindeutig belegen lässt –, „zeigt sich gute Erziehung nicht darin, dass man die Soße nicht verschüttet, sondern darin, dass man es nicht bemerkt, wenn es jemand anderem passiert“. Ein kleines gesellschaftliches Schauspiel kann also ein Ausdruck von Freundlichkeit sein, keine Lüge, sondern ein Akt der Rücksichtnahme. Tatsächlich ist es diese Art von Empathie, also die Fähigkeit, den Menschen hinter der Rolle zu sehen, die es uns ermöglicht, uns über Regeln hinwegzusetzen, wenn diese ihren Sinn verlieren.

Die Freiheit, anders zu denken

Wahre Höflichkeit bedeutet nicht starrer Gehorsam, sondern zu wissen, wann man aus Mitgefühl nachgeben muss. Auch das gehört zum Menschsein dazu. Während wir in liberalen Demokratien vielleicht für Freiheit eintreten – Freiheit von Zwang oder Erlaubnis, wie es Denker wie Friedrich Hayek oder Deirdre McCloskey formulieren würden –, erinnert uns Rousseau daran, dass es auch eine subtilere Form der Freiheit gibt: die Freiheit, anders zu denken und wir selbst zu sein, auch wenn das unbeliebt ist.

Was wäre, wenn wir im Namen der Freiheit und Authentizität lediglich neue Fesseln schaffen würden? Sich von den Urteilen anderer zu befreien, ist die eine Sache. Eine andere ist es jedoch, eine Form durch eine andere zu ersetzen – diesmal mit dem schicken Etikett namens „Authentizität“ aus dem Silicon Valley.

Vielleicht bringen es am treffendsten jene Worte auf den Punkt, die Platon zugeschrieben werden: „Nicht, dass menschliche Angelegenheiten es wert wären, allzu ernst genommen zu werden – aber leider ist es genau das, wozu wir gezwungen sind.“

Denn letztendlich hat Rousseau etwas erkannt, womit wir noch immer zu kämpfen haben: Wir alle sind in irgendeiner Form gefangen zwischen Leistungsdruck und Aufrichtigkeit, zwischen Regeln und Rebellion, während wir versuchen herauszufinden, wie wir gleichzeitig frei und integer sein können.

Von der Foundation for Economic Education (FEE) (Stiftung für wirtschaftliche Bildung).

Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel „Rousseau and the Performance of Being Yourself“. (deutsche Bearbeitung von ee)

Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.



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