Die Mär vom schwachen Militärbündnis

Wenn Ende Juni die Mitgliedstaaten im Weltforum in Den Haag zum NATO-Gipfel zusammenkommen, dann wird es auch um das Ausgabeziel der NATO gehen. Bisher empfiehlt das Militärbündnis seinen Mitgliedern, mindestens 2 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes (BIP) in Verteidigung zu investieren. Dieses sogenannte Verteidigungsinvestitionsversprechen wurde 2014 beim NATO-Gipfel in Wales verabschiedet. Seitdem ist viel passiert.
Spätestens seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine im Jahr 2022 sind die Diskussionen lauter geworden, mehr in die Verteidigung zu investieren. In seiner „Zeitenwende-Rede“ am 27. Februar 2022 vor dem Bundestag kündigte der damalige Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Neuausrichtung der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik an: „Wir erleben eine Zeitenwende. Und das bedeutet: Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“ Russland sei dabei, Europa „mit Waffengewalt in altbekannte Einflusssphären“ zu teilen. Scholz in seiner Regierungserklärung weiter:
Das hat Folgen für die Sicherheit in Europa. Ja, dauerhaft ist Sicherheit in Europa nicht gegen Russland möglich. Auf absehbare Zeit aber gefährdet Putin diese Sicherheit. Das muss klar ausgesprochen werden.“
Neben dem Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Investitionen in die Bundeswehr machte der Bundeskanzler deutlich, dass Deutschland nun auch langfristig mehr in die Verteidigung investieren wird. Der Kanzler versprach, dass Deutschland künftig „Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsproduktes“ für Verteidigung ausgeben werde, um den Anforderungen der NATO gerecht zu werden.
Fünf-Prozent-Ziel: Trump macht Druck
Mit dem Wahlsieg Trumps im November und seiner Amtseinführung im Januar hat sich die Lage jetzt noch einmal verändert. Die Trump-Administration forderte seit dem mehrmals, dass die NATO-Staaten ihren Verteidigungshaushalt auf 5 Prozent des Bruttoinlandsproduktes (BIP) erhöhen sollten.
Am Donnerstag findet eine Konferenz der NATO-Verteidigungsminister in Brüssel statt. Pentagon-Chefsprecher Sean Parnell kündigte in einer Erklärung im Vorfeld an, dass Verteidigungsminister Pete Hegseth auf dieser Konferenz das Ziel von 5 Prozent noch einmal auf den Tisch bringen wird. Im Statement heißt es dazu:
Der Minister wird bei der Konferenz eine Botschaft überbringen, in der er Präsident Trumps Forderung an die NATO-Verbündeten, 5 Prozent ihres BIP für Verteidigung auszugeben, unterstützt und die NATO neu auf kollektive Verteidigung und Abschreckung ausrichtet.“
Ähnlich hatte sich Hegseth schon am 31. Mai anlässlich der Veranstaltung Shangri-La-Dialog 2025 in Singapur in seiner Rede geäußert. In seiner Ansprache betonte Hegseth, dass Präsident Trump ein Ziel von 5 Prozent des BIP für Verteidigungsausgaben der NATO-Mitglieder festgelegt hat. Er hob hervor, dass einige Länder wie Estland und Litauen dieses Ziel bereits erreicht haben und forderte andere Mitglieder auf, ihre Verteidigungsanstrengungen zu verstärken.
Die Vorstellungen der US-Regierung könnten Zustimmung bei den anderen Partnern finden. Auf der Parlamentarischen Versammlung der NATO am 26. Mai hatte Generalsekretär Mark Rutte in seiner Rede nun seinerseits vorgeschlagen, dass NATO-Mitglieder bis 2032 ihre Verteidigungsausgaben auf insgesamt 5 Prozent des BIP erhöhen sollten, wobei 3,5 Prozent für direkte militärische Ausgaben und 1,5 Prozent für verwandte Sicherheitsbereiche wie Infrastruktur und Cybersicherheit vorgesehen seien.
Großbritannien hat bereits eine sogenannt strategische Verteidigungsüberprüfung angekündigt. In einer Presseerklärung sagte Premierminister Keir Starmer, er wolle Großbritannien „kampfbereit“ machen. Damit wolle sein Land einer Bedrohung durch Länder wie Russland entgegenwirken, die das „Vereinigte Königreich täglich direkt“ bedrohten. Bis 2027/28 wird Großbritannien, so kündigte es Starmer an, 2,5 Prozent der Wirtschaftsleistung des Landes für die Verteidigung ausgeben. Im Lauf der kommenden Legislatur sollen es sogar 3 Prozent sein. Ist die NATO allerdings wirklich so unterfinanziert, wie es immer wieder gesagt wird?
Wie hoch waren Verteidigungsausgaben früher?
Schaut man in die „Datenbank für Militärausgaben“ des schwedischen Friedensforschungsinstituts SIPRI, ergibt sich ein guter Überblick über die Verteidigungsausgaben. Schauen wir in diesem Zusammenhang einmal auf die Bundeswehr: Zur Anfangszeit der Bundeswehr ab 1955 lag der Wehretat Deutschlands nach diesen Daten in fast allen Jahren über 3,5 Prozent des BIP. Die bis heute höchste BIP-Quote erreichten die Verteidigungsausgaben im Jahr 1963 mit 4,9 Prozent.
In Frankreich lagen die Verteidigungsausgaben, gemessen an der Wirtschaftsleistung, im Jahr 1988 bei 5,7 Prozent. Seinen Tiefstwert erreichten die Ausgaben in der Zeit von 2011 bis 2016: Der Verteidigungsetat sank in dieser Zeit auf 3,2 Prozent des BIP. Im vergangenen Jahr stieg es dann auf 5,8 Prozent.
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Im Vergleich dazu ein Blick auf Russland: Dort lag der Verteidigungsetat gemessen am BIP im Jahr 1997 bei 6,9 Prozent. Ab 1998 stiegen die Ausgaben allerdings an und lagen in den vergangenen Jahren immer bei um die elf Prozent. Allerdings gab es auch Jahre, wo der Etat weiter darunter lag: 2006 beispielsweise bei 9,8 Prozent. 2022 investierte Russland laut SIPRI 14,8 Prozent seiner Wirtschaftskraft in Verteidigungsausgaben. Die letzten veröffentlichten Zahlen von SIPRI in Bezug auf Russland stammen aus dem Jahr 2023. In diesem Jahr investierte das Land 18,9 Prozent seiner Wirtschaftsleistung in die Rüstung.
Experte widerspricht der Mär von der unterfinanzierten NATO
Ein aufschlussreicher Beitrag im „Journal für internationale Politik und Gesellschaft“ (IPG) stammt von Professor Herbert Wulf, ehemals Direktor des Bonn International Center for Conflict Studies (BICC) und derzeit am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF) der Universität Duisburg-Essen tätig. Unter dem Titel „Die Mär vom NATO-Defizit“ widerspricht Wolf der weitverbreiteten Behauptung, die NATO sei unterfinanziert.
Laut Wulf sind die Militärausgaben der NATO-Staaten in Europa und Kanada zwischen 2015 und 2022 jährlich zwischen 1,6 und 5,9 Prozent gestiegen. Für das Jahr 2023 lag der Anstieg sogar bei 8,3 Prozent. Während 2014 noch rund 235 Milliarden US-Dollar für Verteidigung bereitgestellt wurden, sind es nach Wulfs Schätzungen für 2024 etwa 380 Milliarden US-Dollar – ein Zuwachs von über 60 Prozent. Inklusive der USA belaufen sich die gesamten NATO-Militärausgaben im Jahr 2024 auf etwa 1.160 Milliarden US-Dollar.
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Die NATO veröffentlichte allerdings andere Zahlen: Laut dem aktuellen Jahresbericht der NATO, der im April dieses Jahres veröffentlicht wurde, und den dazu veröffentlichten Statistiken belaufen sich die gesamten Verteidigungsausgaben aller 32 Mitgliedstaaten im Jahr 2024 auf rund 1.474 Milliarden US-Dollar. Die Zahlen basieren auf den von den einzelnen Mitgliedsländern gemeldeten oder angekündigten Haushaltsmitteln für das jeweilige Jahr.
Russlands Militärausgaben
Zum Vergleich: 2022 lag das russische Verteidigungsbudget laut Angaben von Professor Wulf bei 86,4 Milliarden US-Dollar. Für 2024 wird es auf etwa 109 Milliarden US-Dollar geschätzt – rund ein Drittel des russischen Staatshaushalts. Allein die europäischen NATO-Staaten geben jedoch mehr aus als der gesamte russische Haushalt, und ihre Ausgaben sind etwa dreieinhalbmal so hoch wie die Russlands. Mit dem Beitritt Schwedens und Finnlands zur NATO vergrößert sich dieses Ungleichgewicht zusätzlich. Betrachtet man die gesamten NATO-Ausgaben inklusive der USA, so machen Russlands Militärausgaben nur rund 10 Prozent davon aus. Bereits 2022 lagen die kombinierten Verteidigungsausgaben von Deutschland und Frankreich auf dem Niveau des russischen Verteidigungsetats von 2024.
Diese Zahlen belegen, so Wulf, dass die NATO zu keinem Zeitpunkt ein finanzielles Defizit gegenüber Russland aufwies – auch nicht, wenn Unterschiede in der Kaufkraft berücksichtigt werden.
Wulf kommt zu dem Schluss, dass die NATO Russland zahlenmäßig klar überlegen ist. Das Problem der mangelnden strategischen Autonomie Westeuropas oder des europäischen Teils der NATO sieht er daher nicht in zu geringen Ausgaben. Trotz hoher Investitionen – Deutschland rangiert weltweit auf Platz sechs der Verteidigungsausgaben – ist die Bundeswehr schlecht ausgestattet. Insgesamt haben die europäischen NATO-Staaten in den vergangenen zehn Jahren über 3.000 Milliarden US-Dollar in ihre Streitkräfte investiert, dennoch bleibt eine große Lücke zwischen den politischen Ambitionen und der realen Verteidigungsfähigkeit.
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