Die NATO rückt „keinen Zentimeter nach Osten“ – gab es dieses Versprechen?

Bestsellerautor Marcus Klöckner hat ein neues Buch veröffentlicht: „Chronik eines angekündigten Krieges“. Darin bündelt er in einer schier unerschöpflichen Sammlung von Meldungen, die wesentlichen Eck- und Wendepunkte des Ukraine-Konflikts, der seit Februar 2022 Europa zu einem Kriegsherd macht.
Das Buch startet mit einem Essay des US-amerikanischen Historikers Marc Trachtenberg. Der Politikwissenschaftler von der University of California beschäftigt sich seit vielen Jahren mit der Analyse der Entscheidungsprozesse, die zum Ende des Kalten Krieges geführt haben.
Epoch Times veröffentlicht den Beginn seines Essays.
[etd-related posts=“4592869″]
***
Mehr als dreißig Jahre sind vergangen, seit US-Außenminister James Baker dem sowjetischen Staatschef Michail Gorbatschow im Februar 1990 versicherte, dass der Zuständigkeitsbereich der NATO „keinen Zentimeter nach Osten“ ausgedehnt würde, wenn Deutschland nach der Wiedervereinigung Teil der Nordatlantikpakt-Organisation und die Vereinigten Staaten in diesem Land „präsent“ blieben. (1)
Später wurde das NATO-Gebiet natürlich nicht nur auf die ehemaligen Verbündeten der UdSSR in Osteuropa, sondern auch auf einige ehemalige Sowjetrepubliken ausgedehnt, und viele Russen behaupten, dass die NATO-Mächte mit der Aufnahme dieser neuen Mitglieder gerade die Versprechen gebrochen hätten, die Baker und andere hohe westliche Beamte am Ende des Kalten Krieges abgegeben hatten. (2)
Die Amerikaner hatten, wie 2008 Gorbatschow selbst klar gesagt hat, „versprochen, dass die NATO nach dem Kalten Krieg sich nicht über die Grenzen Deutschlands hinausbewegen würde, aber jetzt ist halb Mittel- und Osteuropa Mitglied, was ist also aus ihren Versprechen geworden? Das zeigt, dass man ihnen nicht trauen kann.“ (3)
Was ist von diesen Anschuldigungen zu halten?
Jack Matlock, der US-Botschafter in Moskau im Jahr 1990, war der Ansicht, dass die Russen in diesem Fall Recht hätten. Seiner Ansicht nach hatte man Gorbatschow „grundsätzliche Zusicherungen“ gegeben, dass, „wenn ein vereinigtes Deutschland in der NATO bleiben könnte, sich die NATO nicht nach Osten bewegen würde“. (4)
Robert Gates, der damalige stellvertretende nationale Sicherheitsberater des US-Präsidenten, vertrat ebenfalls die Ansicht, „Gorbatschow und andere“ seien „zu der Annahme verleitet“ worden, dass eine „NATO-Osterweiterung“ nicht stattfinden würde, „zumindest nicht in absehbarer Zeit“. (5)
Und eine Reihe von Wissenschaftlern ist zu ähnlichen Schlussfolgerungen gekommen. Der US-Politikwissenschaftler Joshua Shifrinson versuchte in einem wichtigen Artikel, der 2016 in der vom Massachusetts Institute of Technology herausgegebenen Zeitschrift „International Security“ veröffentlicht wurde, zu zeigen, dass „die russischen Behauptungen eines ‚gebrochenen Versprechens‘ in Bezug auf die NATO-Erweiterung berechtigt sind“ – dass nämlich „während der diplomatischen Verhandlungen rund um die deutsche Wiedervereinigung im Jahr 1990 die Vereinigten Staaten gegenüber der Sowjetunion wiederholt informelle Zusicherungen gegen eine künftige Expansion der NATO nach Osteuropa unterbreitet haben“. (6)
[etd-related posts=“5117047″]
Swetlana Sawranskaja und Tom Blanton verwiesen unter Bezug auf ein viel zitiertes elektronisches Briefing-Book, das vom National Security Archive 2017 ins Internet gestellt wurde, auf eine „Kaskade von Zusicherungen“, die den Sowjets 1990 gegeben worden seien. Sie kamen zu dem Schluss, dass „spätere sowjetische und russische Beschwerden darüber, dass man in Bezug auf die NATO-Erweiterung in die Irre geführt wurde“, von den Beweisen gestützt würden. (7)
Und Mary Sarotte, Autorin einer Reihe von wichtigen Büchern und einschlägigen Artikeln, die sich mit diesen Fragen befassen, stimmt dem zumindest zur Hälfte zu. Sie hat nämlich die Darstellung ausdrücklich zurückgewiesen, dass die damaligen Zusicherungen von US-Außenminister James Baker, dem deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl und dem deutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher gegenüber den sowjetischen Führern, die NATO werde sich nicht nach Osten ausdehnen, nicht für Osteuropa gegolten, sondern sich lediglich auf Ostdeutschland bezogen hätten. „Bei ihrem Besuch in Moskau im Februar 1990“, so Sarotte, „haben alle drei wiederholt bekräftigt, dass sich die NATO überhaupt nicht nach Osten bewegen würde“. (8)

Wie viele Schritte nach Osten sind zu viel? Der frühere niederländische Regierungschef und heutige NATO-Generalsekretär Mark Rutte. Foto: Matthias Schrader/AP/dpa
Beteuerungen kein Versprechen
Ich schreibe aber zugleich „zur Hälfte zustimmend“, weil Mary Sarotte der Meinung ist, dass diese Beteuerungen kein Versprechen darstellten, da sie nie schriftlich bestätigt worden seien: Gorbatschow, schreibt sie, „hat den Westen nie dazu gebracht, zu versprechen, die Grenzen der NATO einzufrieren“. (9)
Dennoch glaubt sie, dass man den Russen nicht wirklich vorwerfen könne, dass sie gedacht hätten, es sei ein Versprechen darüber abgegeben worden. (10)
Die meisten westlichen Akademiker und ehemaligen Beamten waren jedoch nicht bereit, so weit zu gehen. Baker selbst beharrte 1997 etwa darauf, dass er „nie die Absicht gehabt habe, die Aufnahme neuer NATO-Mitglieder auszuschließen“, dass „der Vorschlag zum Zuständigkeitsbereich der NATO sich nur auf das Gebiet der ehemaligen DDR bezogen habe“ und selbst dieser Vorschlag „rasch zurückgezogen worden sei“. (11)
In einem Interview mit CNN im Jahr 2009 legte Baker dar, was in dieser Hinsicht inzwischen zur US-amerikanischen Standardsichtweise bezüglich der „Frage der Erweiterung der NATO“ geworden war:
Wissen Sie, es gab eine Diskussion darüber, ob das vereinigte Deutschland Mitglied der NATO sein würde, und das war die einzige Diskussion, die wir je hatten. Und die Sowjets unterzeichneten einen Vertrag, in dem sie anerkannten, dass das vereinigte Deutschland Mitglied der NATO sein würde. Ich verstehe also nicht, wie sie auf die Idee kommen können, dass wir ihnen irgendwie versprochen haben, dass es keine Erweiterung der NATO geben würde. Es war dabei nie die Rede von etwas anderem als der DDR.“ (12)
Viele andere ehemalige Beamte teilen diese Ansicht. Philip Zelikow, der sich 1990 im Stab des Nationalen Sicherheitsrates (NSC ) der USA mit diesen Fragen befasst hatte, und Rodric Braithwaite, der damalige britische Botschafter in Moskau, sind gute Beispiele dafür, und eine Reihe ehemaliger deutscher Beamter, darunter auch Genscher selbst, äußerten später ähnliche Ansichten. (13)
Sogar Jack Matlock, der frühere US-Botschafter in der UdSSR, hat bei einigen Gelegenheiten gesagt, dass sowohl Baker als auch Genscher bei ihren Zusicherungen nur an das damalige ostdeutsche Gebiet gedacht hätten. (14)

Nach jahrzehntelanger Bündnisfreiheit wurde Finnland im April 2023 das 31. Mitglied der NATO. Foto: Geert Vanden Wijngaert/AP
Zusicherung nur für ostdeutsches Gebiet
Und diese allgemeine Sichtweise wurde von einer Reihe von Wissenschaftlern bestätigt, insbesondere von Mark Kramer (USA), Hannes Adomeit (Deutschland) und Kristina Spohr (Deutschland – USA ). Kramer schrieb beispielsweise in einem wichtigen Beitrag aus dem Jahr 2009 mit dem Titel „Der Mythos einer NATO-Nichterweiterungszusage an Russland“, dass die „Dokumente aller Seiten Zelikows Argumentation voll und ganz bestätigen“, dass die „Vereinigten Staaten keinerlei Verpflichtungen hinsichtlich der künftigen Gebietsumrisse der NATO eingegangen sind“, abgesehen von „einigen speziellen Punkten in Bezug auf Ostdeutschland“, die im Zwei-plus-vier-Vertrag vom September 1990 über den Status des wiedervereinigten deutschen Staates festgeschrieben worden seien. Die Quellen würden somit „die Vorstellung, dass die Vereinigten Staaten oder andere westliche Länder jemals zugesagt hätten, die NATO nicht über Deutschland hinaus zu erweitern“, widerlegen. (15)
[etd-related posts=“4908816,4909959″]
Adomeit stimmt dem zu:
Die Behauptung, die westlichen Staats- und Regierungschefs hätten feste Zusagen gemacht, dass die NATO sich nicht nach Osten ausdehnen würde – also über das Gebiet der ehemaligen DDR hinaus –, ist ein Mythos, der allerdings nach wie vor schwer zu entkräften ist, egal wie viele Beweise zu dessen Widerlegung angeführt werden können.“ (16)
Auch Kristina Spohr hält die Behauptung, bei den Verhandlungen zur deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1990 seien Garantien gegeben worden, „die eine Expansion der NATO nach Osteuropa ausschließen“, für „völlig unbegründet“. (17)
Sie betont, dass nie „rechtlich verbindliche“ Zusagen gemacht worden seien, die eine Ausdehnung der Zuständigkeit der NATO auf Osteuropa ausschlössen. „Wenn de jure keine Zusagen gemacht wurden“, schreibt sie, „konnten auch keine Zusagen gebrochen oder ‚verraten‘ werden“. (18)

Im Zentrum der Deutschen Wiedervereinigung: Michail Gorbatschow (m.), Helmut Kohl (r.) und Hans-Dietrich Genscher (l.) im Juli 1990. Foto: Archiv/dpa
Wer hat also Recht?
Die Frage ist es wert, detailliert untersucht zu werden, weil die Art und Weise, wie sie beantwortet wird, eine direkte Auswirkung auf bestimmte, viel umfassendere historische Probleme hat – vor allem auf die Frage, wie die Welt nach dem Kalten Krieg zu dem wurde, was sie heute ist. Das Thema bezieht sich auch auf bestimmte grundlegende Aspekte der Theorie der Internationalen Beziehungen, insbesondere auf die Frage, ob der Kampf um die Macht im Mittelpunkt des internationalen politischen Lebens steht.
Die Untersuchung dieses Themas kann uns nicht zuletzt etwas Grundlegendes über die Funktionsweise von Diplomatie sagen, insbesondere über die Rolle, die dabei Zusicherungen, Versprechungen und Verpflichtungen in den zwischenstaatlichen Beziehungen spielen.
[etd-related posts=“3946943″]
Alternative Vorgehensweisen?
Aber vielleicht ist der Hauptgrund, warum dieses Thema es wert ist, untersucht zu werden – und auch der Hauptgrund, warum dadurch weiterhin so viele Debatten ausgelöst werden –, derjenige, dass sich dieses Thema direkt auf bestimmte grundlegende politische Fragen bezieht. Wie diese dann beantwortet werden, hat einen ganz offensichtlichen Einfluss darauf, wie wir über die NATO-Erweiterung und ganz allgemein über die amerikanische Politik nach dem Kalten Krieg denken sollten.
Die historische Analyse kann als Ausgangspunkt für Überlegungen darüber dienen, ob nicht alternative Vorgehensweisen hätten verfolgt werden sollen, die mehr mit dem übereinstimmen, was James Baker im Februar 1990 als US-Außenminister zu versprechen schien – und sogar auch als Ansatz für Überlegungen darüber, wie die amerikanisch-russischen Beziehungen heute gestaltet werden sollten.
Angesichts der Bedeutung dieses Themas und der zahlreichen Arbeiten, die insbesondere in den letzten Jahren dazu verfasst wurden, ist es an der Zeit, einen Schritt zurückzutreten und einen neuen Blick auf die Debatte zu werfen.
Dieser Text ist der Anfang des Essays „Die USA und die Zusicherungen von 1990, die NATO nicht nach Osten zu erweitern: Erhellendes zu einem alten Problem“ von Marc Trachtenberg, erschienen im Buch „Chronik eines angekündigten Krieges“. Publikation in Epoch Times mit freundlicher Genehmigung des Westend Verlages.
Die Fußnoten zum Text sind auf der Website des Verlags einsehbar.
Dieser Beitrag stellt ausschließlich die Meinung des Verfassers oder des Interviewpartners dar. Er muss nicht zwangsläufig die Sichtweise der Epoch Times Deutschland wiedergeben.
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion