Ehre als legitimes Tötungsmotiv: Wenn die Mutter die Ermordung ihrer Tochter rechtfertigt

Gul Jan, die Mutter von Bano Bibi, trägt ihre traditionelle Stammeskleidung. Mit einem entschlossenen Blick hält sie eine Koranausgabe in ihren Händen. Auf die Frage, warum sie als Mutter den Mord nicht zur Anzeige gebracht habe, erwidert sie aufgebracht: „Das ist zu Recht passiert. Sie [ihre Tochter] hat Schande über unser Haus gebracht“. Jan scheint fest davon überzeugt, dass nun, durch den ritualisierten Mord an ihrer Tochter, die Ehre des Stammes wiederhergestellt sei. Sie zählt zu den nach der Tat Festgenommenen im Bergbaudorf Degari in einem abgelegenen Gebiet Belutschistans im Südwesten Pakistans. Bis zum Abschluss des Prozesses ist sie in ihr Dorf zurückgekehrt.
Anfang Juni hatte sich in den sozialen Medien Pakistans ein Tatvideo viral verbreitet, in dem eine Gruppe von zehn bis fünfzehn Personen, eine Frau und einen Mann – Bano Bibi und Ehsan Ullah – inmitten einer Landschaft vor laufender Kamera mit einer Pistole erschießen. Auf die dann am Boden Liegenden werden noch weitere Schüsse abgegeben. Der Obduktion zufolge trafen Bibi sieben, ihren Liebhaber neun Kugeln. Anwesend waren Mitglieder beider Stämme, die das Urteil einer sogenannten Jirga vollstreckten. Die Jirga ist eine Ältestenversammlung, die ein Stammesurteil fällt, das die eigenen Familienmitglieder dann ausführen.
„Im Einklang mit der Tradition“
Nachdem dieser sogenannte Ehrenmord auch international verurteilt wurde, bemühte sich der Premierminister der Provinzregierung von Belutschistans, Sarfraz Bugti, den Skandal einzugrenzen. Da die beiden Opferfamilien die Tat nicht angezeigt hatten, trat erstmals in Pakistans Geschichte die Regierung als Ankläger auf. Denn die offizielle Gesetzgebung sieht diese Tat als Mord an, auch wenn kulturell das Jirga-System weit verbreitet und akzeptiert ist.
Die Jirga unterstützt die Stämme in der schnellen Rechtsfindung und bestraft Unrecht ohne einen langwierigen Gerichtsprozess in fernabgelegenen Städten. Aber ein solches Jirga-Urteil missachtet die Grundrechte einer Person, die in der pakistanischen Verfassung von 1973 in den Artikeln 8 bis 28 garantiert sind.
Insgesamt 21 Personen wurden festgenommen. Unter ihnen der Bruder der Getöteten, der seine eigene Schwester erschoss, sowie der Vorsitzende der Jirga – und Gul Jan, die Mutter der Ermordeten. „Niemand hat das Recht, einen anderen Menschen auf so brutale Weise zu töten und dies dann auf Video aufzunehmen“, sagte Bugti während einer Pressekonferenz. „Wir sind entschlossen, durch die Gerichte für Gerechtigkeit zu sorgen.“
Die Mutter des Opfers hingegen bleibt bei ihrer Auffassung: „Das, was wir getan haben, ist richtig und im Einklang mit der Tradition Belutschistans. Wir haben diese Tötung unter rechtmäßigen Bedingungen vorgenommen und haben unsere belutschistanischen Normen und Kultur befolgt“. Sie spricht sich eindeutig für die Entscheidung des Jirga-Systems aus, ihre verheiratete Tochter und den ihr nicht angetrauten, ebenfalls verheirateten Mann zu töten, um die Schande auszulöschen.
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Die Jirgas als Geschäftsmodell
Eine Jirga besteht zumeist aus vier oder fünf Stammesältesten, die unmittelbar eine Rechtsprechung vornehmen. Oder, wie es ein Dorfältester beschreibt: „Es ist unsere Tradition, schnell Gerechtigkeit herzustellen, um den Frieden in der Gemeinschaft zu wahren“. Dabei geht es um sämtliche Streitigkeiten des Alltags, die zwischen Nachbarn, um Grund und Boden oder Sachschäden entstehen können. Die Ehrenmorde sind nur ein Teil des Ganzen. Allerdings der, der in einer gesetzlichen Straftat endet. Hier kollidieren zwei Systeme.
Hieran etwas zu ändern, dürfte schwierig sein, da diese Paralleljustiz nicht nur von weiten Teilen der ländlichen Bevölkerung akzeptiert wird, sondern auch die örtliche Polizei als auch die Politiker darin eingebunden sind. Sie beziehen dadurch zusätzliche Einkünfte. Wenn beispielsweise zwei Parteien sich an eine Jirga wenden, um eine Gebietsstreitigkeit zu klären, muss jede von ihnen einen Geldbetrag hinterlegen. Dieser ist davon abhängig, wie wohlhabend die Familien sind. Es kann bereits bei 10.000 pakistanischen Rupien (circa 300 Euro) beginnen, aber durchaus auch höher liegen.
Oftmals ist es dann so, dass die Jirga von einer der Parteien mit einem höheren Geldbetrag bestochen wird, ein Urteil zu ihren Gunsten zu fällen. Diese Gelder schmieren dann Polizisten, Politiker und sogar Richter, die Urteile nicht anzufechten. Auf lokaler Ebene hat kaum jemand Interesse, das staatliche Justizsystem zu unterstützen, wenn er sich die eigene Tasche füllen kann.

Ein pakistanischer Mann zeigt ein Foto seiner Frau, Muqaddas Bibi, die am 17. Juni 2016 im Dorf Buttaranwali, nördlich der Provinzhauptstadt Lahore in Punjab, von ihren Verwandten in einem Ehrenmord getötet wurde, nachdem sie gegen deren Willen geheiratet hatte. Foto: Khurram Butt/AFP via Getty Images
Ein veralteter Ehrbegriff
Die Entscheidungen der Jirgas werden oft in einer einzigen Anhörung verkündet und gelten in der Regel als verbindlich, ohne dass die Möglichkeit einer Berufung besteht. Allein im vergangenen Jahr 2024 wurden laut der Human Rights Commission of Pakistan mindestens 346 Menschen bei Ehrenmorden getötet, wobei viele Fälle nicht gemeldet werden. Nicht immer existieren Videos zu diesen Taten, und nicht in allen Fällen findet sich ein Ankläger, da sich auch die Opferfamilien dem parallelen Justizsystem verbunden fühlen. Häufiger betroffen sind Frauen, wie jene fünf Mädchen, die beschlossen, nach eigener Wahl zu heiraten, und dafür 2008 lebendig begraben wurden.
Noch zwei der jüngst bekannt gewordenen Fälle im Jahr 2025 machen deutlich, dass die pakistanische Regierung weiter unter Handlungsdruck steht. So wurde im Bezirk Attock in der Provinz Punjab im Westen Pakistans die Mutter eines Kleinkindes vom Ehemann und Schwiegervater gemeinsam wegen angeblicher „Charakterprobleme“ erschossen. Und im Bezirk Lower Dir in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa wurde in diesem Jahr ein Paar einer illegitimen Beziehung verdächtigt und deswegen von anderen Stammesmitgliedern ermordet. Nicht jeder dieser Morde gewinnt die öffentliche Aufmerksamkeit oder erreicht überhaupt als Meldung Europa.
Und noch seltener gelangen solche Fälle vor europäische Gerichte, wie der Tod der 18-jährigen pakistanischstämmigen Saman Abbas im Jahr 2021, die sich in ihrer neuen italienischen Heimat mit ihrem Freund in den sozialen Medien zeigte und den von der Familie ausgewählten pakistanischen Ehemann verschmähte.
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Die Familie des zukünftigen Ehemannes hätte für die Braut 15.000 Euro gezahlt. Ein norditalienisches Gericht befand 2023 die Eltern für schuldig an der Tötung der Tochter. Ein Onkel Abbas’, der die Tat ausführte, wurde in Frankreich festgenommen und führte die Polizei zu dem Ort unweit des Elternhauses, wo man die Leiche verscharrt hatte. Die Obduktion erwies, dass Abbas erstickte und einen Genickbruch aufwies.
Nicht viel anders erging es den beiden spanisch-pakistanischen Schwestern, Arooj und Aneesa Abbas, ursprünglich aus dem Bezirk Gujrat. Sie weigerten sich, die von der Familie bestimmten Ehemänner mit nach Spanien zu nehmen. Diese Weigerung wurde als Scheidungsakt angesehen. Beide wurden gefoltert und erschossen. Auch in diesem Fall waren es die Medien, die zu einer Strafverfolgung beitrugen.
Und so wurde erst durch das Online-Stellen des Tatvideos von Bano Bibi eine breite Öffentlichkeit hergestellt, die eine politische Antwort forderte. Auch im Parlament argumentierte die Senatorin und ehemalige Bundesministerin Shehrbano „Sherry“ Rehman: „Wie konnte dieser vorsätzliche Mord in Belutschistan ein ‚Ehrenmord‘ sein? Er hat die gesamte Nation entehrt. Es spielt keine Rolle, wer sie war oder was sie getan hat. Niemand hat das Recht, Gerechtigkeit zu privatisieren und der Barbarei, die wir in diesem erschreckenden Video gesehen haben, freien Lauf zu lassen.“ Sie fordert harte Strafen für die Täter: „Es soll ein Exempel statuiert werden an jenen, die Frauen kaltblütig erschießen.“

Pakistanische Einwohner sprechen am 8. März 2019 im Bezirk Battagram in der Provinz Khyber Pakhtunkhwa Gebete am Sarg von Afzal Kohistani. Kohistani, der als Whistleblower auf einen berüchtigten Fall von Ehrenmorden aufmerksam gemacht hatte, wurde laut Angaben der Polizei am 6. März in Abbottabad erschossen. Foto: Jameel Ahmed/AFP via Getty Images
Ein Testfall für Pakistans Rechtsstaatlichkeit
Bereits 2016 wurde die pakistanische Gesetzgebung geändert, um zu verhindern, dass in diesen Fällen die Täter mit der Vergebung durch die Opferfamilie ungestraft davonkommen. Allerdings heben die Gerichte in der Praxis die Vereinbarungen zwischen den Familien bisher noch selten auf und begünstigen damit weiter die Paralleljustiz. Der überwiegende Teil der pakistanischen Bevölkerung ist konservativ und folgt traditionellen Koranauslegungen. Ehre als legitimes Tötungsmotiv findet gerade in den ländlichen Gebieten große Akzeptanz, sodass auch hier etwas in Bewegung gesetzt werden muss.
Doch je mehr Details von den Morden an Bano Bibi und Ehsan Ullah an die Öffentlichkeit gelangen, umso vehementer wird die öffentliche Debatte geführt, die ein Umdenken hervorrufen kann. In dem Tatvideo sagt Bibi zu ihrem Bruder: „Komm, geh sieben Schritte mit mir, danach kannst du mich erschießen.“ Und nachdem er ihr gefolgt war, sagt sie: „Du darfst mich nur erschießen. Mehr als das darfst du nicht tun.“
Doch in der nun bekannt gewordenen Fortsetzung des Videos ist zu sehen, wie später über ihre Leiche Benzin verschüttet wird, um sie zu verbrennen und sie dadurch zu schänden. Der Funktionär der nationalistischen Partei Pakistan Tehreek-e-Insaf (PTI), Eiman Jamil, der die Tat als „kaltblütigen Mord“ bezeichnete, sagte: „Kultur ist keine Entschuldigung für Grausamkeit.“
Bereits 2019 hat der Oberste Gerichtshof Pakistans entschieden, dass das Jirga-System illegal und verfassungswidrig ist. Im Urteil heißt es: „Die Funktionsweise von Jirgas […] verstößt gegen Pakistans internationale Verpflichtungen […], die dem pakistanischen Staat die Verantwortung auferlegen, sicherzustellen, dass jeder Zugang zu Gerichten hat und vor dem Gesetz sowie in allen Phasen des Gerichtsverfahrens gleich behandelt wird.“
Das offizielle Gerichtsverfahren im Fall der Ermordung von Bano Bibi und Ehsan Ullah ist bislang nicht abgeschlossen. Es wird zum Test für die Rechtsstaatlichkeit in Pakistan.
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