Interview mit Siegmar Faust: Gedichte, die störten – 33 Monate in politischer DDR-Haft

Der Wahlberliner Siegmar Faust (geb. 1944) geriet in der DDR aufgrund seiner provokanten Gedichte und Unangepasstheit in den Fokus der Staatssicherheit (Stasi). Nach 33 Monaten politischer Haft konnte er in die Bundesrepublik ausreisen. Nun veröffentlichte er den ersten Band seiner Biografie. Darüber sprachen wir mit dem Künstler.
Als junger Mensch waren Sie Marxist, wie kam es dazu?
Ich glaubte damals, dass Karl Marx den Lauf der Geschichte erkannt hatte und der Kommunismus ein Paradies auf Erden sei. Alles gehöre allen. Für mich als nicht religiös gebundenem Menschen hörte sich das wunderbar an.
Laut Nikita Chruschtschow, dem ehemaligen Staats- und Parteichef der Sowjetunion, sollte der Kommunismus bis 1980 eintreten. Fast alle Geldmittel sollten bis dahin abgeschafft sein. Also wohnen ohne Miete und kostenfreie Grundnahrungsmittel. Ich habe das geglaubt.
Sie wollten sogar in die SED eintreten …
Der Marxismus war für mich eine Ersatzreligion. Ich war nie ein Ulbricht- oder Honecker-Fan. Als ich in die SED eintreten wollte und ihr Kandidat wurde, ging es mir immer um Reformen. Wir jungen Genossen haben die Regierenden nicht ernst genommen und waren immer in Opposition und wollten es besser machen – also Marx richtig umsetzen. Letztendlich war das alles Größenwahn.
Was ließ Sie von Marx abrücken?
Ich beschäftigte mich mit den Gedichten von Marx, kaufte aber parallel dazu einen Gedichtband des amerikanischen Dichters Walt Whitman. Beide waren fast gleich alt. Als ich die Gedichte von Marx las, war ich enttäuscht. Ein Reclamheft von Whitman mit dem Titel „Grashalme“ habe ich in der Schule heimlich unter der Bank gelesen. Danach war ich so aufgewühlt, dass ich die Schule schwänzte und in der Dresdner Heide, ganz oben auf einem Heuschober, den Vögeln, den Hasen, den Mäusen Whitmans Gedichte laut und glücklich vorlas. Das war schon ein Wegrücken von Marx. Dessen Jugendgedichte waren so schändlich primitiv.
Für Ihr Interesse an Lyrik wurden Sie später von der Stasi überwacht, warum?
Während meines ersten Studiums an der Karl-Marx-Universität in Leipzig hatte ich einen Lyrikabend organisiert. Daran nahmen alle Studenten unserer Sektion und auch zwei Dozenten teil. Einer war in der Parteileitung und der andere war ein alter Kommunist. Sie klatschten und fanden es toll. Drei weitere junge Lyriker und ich, völlig unbekannt – keiner von uns hatte je etwas veröffentlicht –, trugen erstmals ihre Gedichte vor. Deshalb habe ich das „Unzensierte Lyrik“ genannt.
Danach mussten wir mit unseren Gedichten zu einer Kommission kommen, wo wir vernommen und angeschnauzt wurden. Ich wurde anschließend von der Hochschule geschmissen und kriegte Bewährung in der Produktion. So rausgeschmissen zu werden, das war für mich eine Katastrophe.
Später wurde ich Bootsführer für Ausflüge auf einem Stausee nahe Leipzig. Auf dem Boot habe ich nachts mit jungen Künstlern Lyriklesungen organisiert, wobei wir den Arbeiter Wolfgang Hilbig entdeckten, der später im Westen mit Preisen überhäuft wurde. Die Stasi hat uns auf Schritt und Tritt überwacht und mit einer versteckten Kamera Hunderte Fotos gemacht. Das ging später aus meiner Stasi-Akte hervor. Schließlich versuchte man, mich selbst als Stasi-Spitzel zu gewinnen. Das lehnte ich jedoch ab.
Wie war Ihre Haltung zur DDR in dieser Zeit?
Vor allem durch die brutale Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 geriet ich immer mehr in Opposition. Ich konnte das SED-Regime nicht mehr ernst nehmen.
Ich habe zwar an eine Flucht in den Westen gedacht, aber ich habe keine Chance gesehen. Das Leben riskieren, um dann auf der Flucht erschossen zu werden, das hätte ich nie gemacht. Ich wollte verschiedene Künstler, Maler und Dichter zusammenbringen, und das ist mir auch gelungen. Mit der Künstlergruppe wollte ich unseren eigenen kleinen Freiraum schaffen. Für meine individualistischen Gedichte nach westlichem Muster und weil ich nach persönlicher Unabhängigkeit strebte, wurde ich später verhaftet.
Wie war ihre familiäre Situation damals?
Mich beeinflussten die 68er, die ich nur vom Radio her kannte. „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.“ Solche Sprüche kamen zu uns rüber. Daher lebte ich in einer Dreizimmerwohnung mit meiner Frau, unseren drei Kindern und ihrer sechs Jahre jüngeren Freundin zusammen und machte auf Großfamilie. Ihre Freundin bekam dann eine Tochter von mir. Solch ein Zusammenleben kann auf Dauer nicht gutgehen, das ist unmöglich.
Sie kamen schließlich in ein Stasi-Gefängnis …
Ja, eines Tages kam die Stasi in die Wohnung und nahm alle meine Westbücher und Manuskripte mit. Gleichzeitig wurde ich wegen staatsfeindlicher Hetze festgenommen. Das kam für mich völlig unerwartet.
1972 brachten sie mich in die Stasi-Untersuchungshaftanstalt in der Leipziger Beethovenstraße. Aufgrund des Machtwechsels von Ulbricht zu Honecker gab es eine große Amnestie für Strafgefangene. Dadurch kam ich nach elf Monaten aus der Untersuchungshaft frei. Meine Frau ließ sich während der Haft von mir scheiden.
Nach der Haft fragte ich mich: Soll ich ein ganzes Leben lang Hilfsarbeiter sein? Zweimal wurde ich exmatrikuliert. Nochmal studieren durfte ich nicht. Nach der Haft mich bewähren im sozialistischen Sinne, damit ich ein treuer Genosse werde – das war für mich vorbei. Und auch vom Marxismus hatte ich mich immer weiter distanziert.
Nachdem die DDR 1973 in die UNO aufgenommen worden war, stellte ich einen Ausreiseantrag. Ich glaubte, dass die DDR nun zu allgemeinen menschenrechtlichen Prinzipien verpflichtet sei. Ich wurde zum Rat des Kreises Pirna geladen. Dort geriet ich an einen alten Funktionär. „Faust, Sie sind doch noch viel zu jung, Sie kennen doch die Welt noch gar nicht.“ „Genau deshalb möchte ich ja ausreisen“, antwortete ich.
Kurzum, es war ein unmögliches Gespräch – völlig sinnlos. Daraufhin organisierte ich zusammen mit einem Bekannten eine Unterschriftensammlung für unsere Ausreise, die 42 Menschen unterzeichneten. Am 10. Mai 1974 wurde ich erneut verhaftet und in die Dresdner Stasi-Untersuchungshaftanstalt eingesperrt. Wegen „staatsfeindlicher Hetze“ wurde ich schließlich zu viereinhalb Jahren Gefängnis verurteilt und kam in die Strafvollzugsanstalt nach Cottbus.
Dort verbreiteten sie eine illegale Gefängniszeitung …
Ja, nun war ich ein richtiger Gegner des SED-Regimes. In Cottbus habe ich eine handgeschriebene Häftlingszeitung in Umlauf gesetzt. Die Zeitungserstellung gab meinem Leben wieder einen Sinn. Es gab immer nur ein Exemplar. Sie wurde zusammengefaltet von Häftling zu Häftling weitergegeben.
Wegen der Gefängniszeitung kam ich für insgesamt 401 Tage in eine Keller-Einzelzelle, inklusive 63 Tagen Arrest, ebenfalls im Keller.
Ich nannte meine 13 erstellten Gefängniszeitungen in Bezug auf das SED-Propagandablatt „Neues Deutschland“ „Armes Deutschland – ein Organ der politischen Gefangenen in der Ostzone“. Das war mein gewaltloser Widerstand. Darin gab es viele Texte, aber auch Zeichnungen und Gedichte. Sie war beliebt unter den Häftlingen. Einmal gelangte ein Exemplar zu mir zurück. Es war total zerlesen und man konnte kaum noch etwas entziffern.
In der U-Haft setzten sie sich dann auch mit der Bibel auseinander. Warum?
Während meiner ersten Stasi-U-Haft kam ich durch Zufall an die Bibel heran. Ich suchte nach den Erfahrungen mit dem Sozialismus und dem Marxismus eine neue Orientierung. Ich war fortan immer ein bisschen neugierig darauf, was in der Bibel steht.
Tatsächlich habe ich darin etwas gefunden, was mich bis heute begleitet. Ich hätte mich zwar damals nicht als Christ bezeichnet, aber heute gehöre ich einem christlichen Orden an und habe christliche Freunde. Insbesondere das Buch Hiob hat mich damals bestärkt und mir Hoffnung gegeben. Was Hiob alles unschuldig durchmachte und wie er bestraft wird und dann doch noch Glück erfährt, darin habe ich mich wiedergefunden.
Aus dem Gefängnis haben Sie eine geheime Botschaft an Ihre Frau herausgeschmuggelt …
Als meine Briefe nicht mehr bei meiner zweiten Frau ankamen, schrieb ich meiner Tochter anlässlich ihrer Einschulung. Auf der Rückseite schrieb ich mit Zuckerwasser eine Botschaft an meine Frau. Getrocknet sieht man nichts, hält man den Brief jedoch über eine Flamme oder bügelt darüber, wird die Schrift sichtbar. Auf diese Weise teilte ich ihr mit, wie ich behandelt werde und dass ich es nicht mehr lange aushalte. Der Brief kam tatsächlich an. Aber meine Frau wusste ja nicht, dass sie die Rückseite bügeln musste.
Bei einer Besuchszeit – pro Vierteljahr eine halbe Stunde – zeigte ich ihr zwei Worte, die ich auf die Innenfläche meiner Hand geschrieben hatte. Dort stand: „Brief bügeln“. Der anwesende Offizier, der das Gespräch überwachte, bekam das mit und beendete die Besuchszeit sofort. Der Offizier ließ sich die Hand zeigen und fand nichts vor, da ich die Worte schnell weggewischt hatte. Er fragte, was darauf stand. „Ich liebe dich“, log ich.
Wie kam es zu Ihrer Freilassung?
Zu Hause hat sie den Brief gebügelt, die Zuckerwasserschrift gelesen und ist dann nach Berlin zum Liedermacher und Lyriker Wolf Biermann gefahren, mit dem ich befreundet war. Biermann ist zu dem Chemiker und NS-Widerstandskämpfer Robert Havemann gefahren, obwohl sie zerstritten waren. Havemann schrieb einen Brief an SED-Chef Erich Honecker. Beide waren in der Nazizeit als Kommunisten Haftkameraden und kannten sich.
Havemann erinnerte Honecker an die schwere Haftzeit, die beide durchgemacht hatten, und zitierte meinen mit Zuckerwasser geschriebenen Hilferuf. Am Ende bat er Honecker, dass ich freigelassen werde.
Fünf Tage nach dem Brief wurde ich aus der Zelle geholt – wegen „guter Führung“.
Und die Ausreise, wie kam sie zustande?
Ich ging zum Rat des Kreises Pirna und erklärte erneut, dass ich ausreisen will. Die Angestellten waren aufgrund meiner von Honecker angeordneten Entlassung total freundlich. Ein halbes Jahr später, am 1. September 1976, konnte ich endlich ausreisen.
Angekommen im Westen war alles völlig anders als in den DDR-Medien dargestellt. Es war viel sauberer und ordentlicher als in der DDR, die Menschen freundlicher. Aber es war auch nicht einfach, denn ich hatte keinen Berufsabschluss, kein abgeschlossenes Studium, nichts. Aber ich fand stets neue Freunde, freilich auch Gegner.
Mein Wille zur Aufklärung über den real existierenden Sozialismus erlosch nie. Ich war als Vortragsredner unterwegs und schrieb viel, auch Filmdrehbücher für die sechsteilige ZDF-Spielfilmserie „Freiheit, die ich meine“.
Was haben sie aus den Erfahrungen in der DDR fürs Leben mitgenommen?
Durch die Erfahrungen mit dem DDR-Sozialismus ist für mich klar, dass es kein Paradies auf Erden gibt, aber Gut und Böse in jedem Menschen existieren. Ein Staat kann nur dann ausgeglichen sein und eine gute Wirkung entfalten, wenn er den Menschen die Freiheit gibt, nach der Wahrheit zu suchen, Fehler zu machen, zu streiten, bis an den Rand von Radikalität zu gehen und dann durch Erkenntnis und Erfahrung gereift umkehren zu dürfen.
Rachegelüste hatte ich nie. Ich bin nach der Wiedervereinigung in kirchlich organisierten Versöhnungsrunden gegangen, um Diskussionen mit ehemaligen Stasi-Offizieren zu führen. Ich habe mich mit zwei von ihnen sogar angefreundet. Ebenso mit dem Politbüromitglied Günter Schabowski, der sich gewandelt hatte. Man muss als freier Mensch Lust haben an der Diskussion mit jedem, auch den Stasi-Leuten und Ideologen, um den Werten der Wahrheit näherzukommen, damit aus der Demokratie nie wieder eine Diktatur wird.
Das Interview führte Erik Rusch.
Verdoppeltes Leben
Faust, Siegmar
Verlag Inspiration Unlimited
gebundenes Buch, 572 Seiten
ISBN/EAN: 9783945127537
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