Selbstverteidigung oder Genozid? Der Krieg im Gazastreifen

Aus der Sicht des israelischen Premierministers Benjamin Netanjahu ist die Lage eindeutig: Schuld am Gaza-Krieg sei die Hamas, die die etwa 2,1 Millionen Palästinenser im Gazastreifen als Schutzschild missbrauche. Der Konflikt sei einfach zu lösen: Die Hamas müsse die verbliebenen israelischen Geiseln freilassen, ihre Waffen abgeben, sich auflösen und Gaza verlassen.
Auch Araber fordern Auflösung der Hamas
Unterstützung für diese Forderung erfährt Israel seit Ende Juli ausgerechnet von seinen arabischen Nachbarstaaten. Am 30. Juli verurteilten in einer Konferenz der Vereinten Nationen neben der EU und anderen Staaten auch erstmals die Arabische Liga das Hamas-Massaker vom Oktober 2023. In der Erklärung, die unter anderem von Saudi-Arabien, Ägypten und Katar, das lange Zeit die Hamas unterstützte, unterzeichnet wurde, heißt es, dass die palästinensische Terrorgruppe die israelischen Geiseln freilassen, ihre Waffen abgeben und Gaza verlassen müsse.
Angesichts der medienwirksam verbreiteten hungernden Kinder in Gaza wies die reichweitenstarke saudische Tageszeitung „All Arab News“ am 5. August darauf hin, dass auch „im Jemen 1 Million Kinder unter Mangelernährung leiden“ würden.
[etd-related posts=“5204158″]
Warum gibt es eine humanitäre Krise?
Die israelische Regierung hat eine Begründung parat, warum es im Gazastreifen zu einer humanitären Krise gekommen ist: Weil das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina (UNRWA) von der Hamas unterwandert worden sei, hätte die Nahrungsmittelversorgung durch die UNO eingestellt werden müssen.
Denn die Hamas habe sich die Hilfsgüter angeeignet, viele davon für sich selbst behalten und den Rest zu überteuerten Preisen an die eigene Bevölkerung verkauft und sich dadurch finanziert. Berichte über eine Hungerkatastrophe seien bewusst gesteuerte Falschmeldungen der Terrororganisation beziehungsweise von dieser bewusst herbeigeführt, um sie Israel anzulasten. Der Wahrheitsgehalt dieser israelischen Behauptung lässt sich aufgrund der unübersichtlichen Gemengelage im Gazastreifen nicht überprüfen, ebenso wenig die Anschuldigungen seitens der Hamas. Fest steht jedoch: Es gibt eine extreme humanitäre Krise im Gazastreifen, die kurz vor einer menschenverursachten Hungersnot steht.
[etd-related posts=“5207390″]
Israelische Menschenrechtsorganisationen: Israel begeht Genozid
Deshalb häufen sich auch in der westlichen Welt die Vorwürfe an Israel, kurz davorzustehen, an den Palästinensern einen Völkermord zu begehen. Besondere Aufmerksamkeit für diese These erregten vor Kurzem zwei israelische Menschenrechtsorganisationen, die Ende Juli vor die Presse traten und der eigenen Regierung Genozid im Gazastreifen attestierten.
B’Tselem, zu Deutsch „Ebenbild“, ist das 1989 gegründete israelische Informationszentrum für Menschenrechte in den von Israel besetzten palästinensischen Gebieten. Das Zentrum legte einen Bericht (pdf) vor, in dem es die israelische Regierung des „Genozids“ bezichtigte. Auch die Privatinitiative Ärzte für Menschenrechte Israel (PHRI) schloss sich unter Verweis auf einen 65-seitigen Bericht (pdf) dieser Einschätzung an.
B’Tselem schreibt in einer Stellungnahme zum Bericht: „Eine Untersuchung der israelischen Politik im Gazastreifen und ihrer schrecklichen Folgen sowie Aussagen hochrangiger israelischer Politiker und Militärkommandeure zu den Zielen des Angriffs führt uns zu dem eindeutigen Schluss, dass Israel koordinierte Maßnahmen ergreift, um die palästinensische Gesellschaft im Gazastreifen vorsätzlich zu zerstören.“
Der Bericht präsentiert Statistiken, persönliche Zeugenaussagen und Dokumente, die beweisen sollen, dass die israelische Politik „gezielt“ zur Zerstörung der palästinensischen Gesellschaft im Gazastreifen beiträgt. B’Tselem warnt zudem, „dass Israel seine Muster der Zerstörung und Vernichtung, die derzeit in Gaza umgesetzt werden, bereits im Westjordanland wiederholt – wenn auch in geringerem Umfang – und dass die reale Gefahr besteht, dass sich der Völkermord über den Gazastreifen hinaus ausbreitet“.
B’Tselem räumt ein: „Nach Jahrzehnten der Trennung und der Entmenschlichung der Palästinenser lösten die Schrecken des von der Hamas angeführten Angriffs am 7. Oktober 2023 bei den Israelis tiefe Existenzängste aus.“ Die Organisation beklagt aber: „Das Leben aller Palästinenser, vom Jordan bis zum Mittelmeer, wird als wertlos behandelt. Sie können verhungern, getötet oder vertrieben werden – und die Situation verschlechtert sich ständig.“ Und sie fordert: „Die Welt muss die Verbrechen Israels stoppen.“
[etd-related posts=“5210191″]
„Kein zufälliger Kriegsschaden“
Der ergänzende Bericht der Ärzteorganisation PHRI bietet eine detaillierte juristisch-medizinische Analyse des anhaltenden israelischen Militärangriffs auf Gaza und kommt laut der B’Tselem-Stellungnahme zu dem Schluss, „dass der Angriff die Kriterien für Völkermord gemäß der Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes erfüllt, die Israel unterzeichnet hat“.
Und weiter: „Die Beweise deuten auf eine vorsätzliche und systematische Zerstörung des Gesundheitssystems und anderer lebenswichtiger Systeme im Gazastreifen hin, die für das Überleben der Bevölkerung notwendig sind.
Dazu gehören direkte Angriffe auf Krankenhäuser, die Blockierung medizinischer Hilfe und Evakuierungen sowie die Tötung und Verhaftung von medizinischem Personal. Dies ist kein zufälliger Kriegsschaden – es ist eine bewusste Politik, die darauf abzielt, der palästinensischen Bevölkerung als Gruppe zu schaden.“
Israel zerstöre „wissentlich das Gesundheitssystem im Gazastreifen“, kritisierte Dr. Guy Shalev, Geschäftsführer der Ärzte-Menschenrechtsorganisation. Die israelischen Leitmedien sowie arabische Medien berichteten breit über die Kritik beider Organisationen.
[etd-related posts=“5159040,5206183″]
UN-Definition von Völkermord
Zu einem anderen Schluss kommen Rechtsexperten. Prof. Dr. Stefan Talmon, Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht an der Universität Bonn, brachte in einem Interview mit „Euronews“ zum Ausdruck, dass es keine ausreichenden Beweise für die offensichtliche Absicht Israels gibt, Völkermord zu begehen. „Israel begeht das Kriegsverbrechen, Hunger als Kriegswaffe einzusetzen, was nach internationalem Recht verboten ist“, ist Talmon überzeugt. „Aber es gibt einen Unterschied zwischen Kriegsverbrechen und Völkermord.“
Der Begriff „Völkermord“ wurde 1944 von dem jüdisch-polnischen Anwalt Raphael Lemkin geprägt. Die Vereinten Nationen definieren Völkermord anhand von fünf Kriterien:
- Tötung von Mitgliedern einer Gruppe;
- Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
- vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
- Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
- gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe.
Diese Handlungen müssen in der Absicht begangen werden, die Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören.
[etd-related posts=“5163807,5160838″]
Wollen israelische Politiker Palästinenser auslöschen?
„Je länger der israelische Gegenschlag dauert, je weniger Widerstand die Hamas leistet und je mehr Zivilisten sterben, desto schwieriger wird es für Israel, sich auf das Selbstverteidigungsrecht gegenüber der Hamas zu berufen“, gibt Prof. Dr. Michael Riegner von der Universität Erfurt zu bedenken.
Der renommierte Journalist Eric Frey von der Wiener Tageszeitung „Der Standard“ hingegen ist überzeugt, dass es innerhalb der israelischen Regierung „Belege für den Vorsatz“ eines Genozids an den Palästinensern im Gazastreifen gebe.
Frey verweist als Nachweis für seine These auf die Worte „führender Politiker, die offen oder verklausuliert die totale Vernichtung der Palästinenser im Gazastreifen fordern und ihre grundlegenden Menschenrechte negieren. Und das sind nicht nur die beiden Rechtsextremisten im Kabinett, Sicherheitsminister Itamar Ben-Gvir und Finanzminister Bezalel Smotrich, sondern auch Netanjahu selbst und seine Parteifreunde aus dem Likud.“ Und Frey ist weiterhin überzeugt: „Kommt es tatsächlich zum Genozid, dann wird ein Land diesen Makel nicht mehr los.“
vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.
Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.
Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.
Ihre Epoch Times - Redaktion