Waffen in der Ukraine außer Kontrolle?

Seit Kriegsbeginn wurden Millionen Schusswaffen in der Ukraine verteilt – viele davon an Zivilisten. Was während der Invasion notwendig schien, wird nun zur sicherheitspolitischen Herausforderung: Experten warnen vor einer „Kalaschnikow-Gesellschaft“ und illegalem Waffenschmuggel in die EU.
Titelbild
Ein Demonstrant fordert mit einem Schild „Arm Ukraine now!“ die Waffenlieferung an die Ukraine durch Bulgarien am 28. April 2022 in Sofia.Foto: Nikolay Doychinov / AFP via Getty Images
Von 31. Mai 2025

„Wir werden jedem, der das Land verteidigen will, Waffen geben.“ Mit diesen Worten rief der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj am ersten Tag des Krieges seine Landsleute zum bewaffneten Widerstand gegen Russland auf. Noch am selben Wochenende begann die Verteilung von Waffen. Innerhalb von nur zwei Tagen wurden mehr als über 25.000 automatische Gewehre und andere Waffen an Zivilisten verteilt, wie der damalige Innenminister Denys Monastyrsky bestätigte.

Seit dem 24. Februar 2022 sind mehr als drei Jahre vergangen. Doch wie viele Waffen seither in den Besitz ukrainischer Bürger gelangt sind, bleibt auch für die Regierung eine offene Frage. Die Schätzungen zur Gesamtzahl schwanken zwischen 1 und 5 Millionen Schusswaffen, wie Innenminister Ihor Klymenko im vergangenen Jahr erklärte.

„Wir haben heute darüber gesprochen, wie viele Waffen sich im Besitz unserer Bürger befinden. Zwischen 1 Million und 5 Millionen. Aber 1 Million ist auch eine beträchtliche Anzahl. Und wie viele Granaten befinden sich im Besitz unserer Bürger? Ebenfalls eine beträchtliche Anzahl. Wir müssen alles tun, um sicherzustellen, dass diese Waffen und Munition in Lagerhäuser gelangen, damit die Bürger nicht gefährdet werden“, betonte Klymenko.

Das Land, dessen waffenrechtliche Vorschriften seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion ein nie abgeschlossenes „Work in Progress“ geblieben sind, steht nun vor einer entscheidenden Frage: Was passiert nach dem Krieg mit all den Waffen? Welche Risiken birgt ein solches Arsenal für die Ukraine selbst – und für die Sicherheit Europas?

„Waffen werden auf Spielplätzen gefunden, Waffen werden in Wohnungen gefunden“

Seit 2022 strömen ununterbrochen Waffen ins Land. Einerseits in Form internationaler Hilfspakete, andererseits durch interne Beschaffungsprogramme. In der Ukraine sind laut Herman Smetanin, Minister für strategische Industriezweige, etwa 800 Waffenhersteller tätig; weitgehend dank ausländischer Finanzmittel.

Laut Nicolas Florquin, Leiter der Datenanalyse bei der Genfer Forschungsorganisation Small Arms Survey, ist es äußerst schwierig, die tatsächliche Anzahl der im Land befindlichen Waffen auf Basis öffentlich zugänglicher Informationen zu bestimmen. Der Grund dafür liege zum einen in der Vielzahl und Vielfalt der Bezugsquellen, zum anderen in der oft unvollständigen Dokumentation der Lieferungen, so Florquin.

Daten von „Statista“ zufolge lieferten allein die USA zwischen 2022 und 2024 Waffen im Umfang von über 5.600 Millionen TIV (Trendindikatorwerte) an die Ukraine. An zweiter Stelle folgt Deutschland mit Exporten im Wert von 1.539 Millionen TIV im selben Zeitraum. Diese Zahl gibt allerdings nicht die konkrete Stückzahl oder den Marktwert an, sondern basiert auf einem standardisierten Messsystem.

Die Maßeinheit TIV ordnet jedem Waffentyp ein technisches Gewicht zu. Ein neuer Leopard-2A4-Kampfpanzer wird zum Beispiel mit 4 Millionen TIV bewertet. So lässt sich der Umfang von Rüstungslieferungen international vergleichen. Daraus geht aber nicht hervor, wie viele Waffen tatsächlich geliefert wurden.

Rüstungsbetrieb „Forges de Tarbes“ in Tarbes im Südwesten Frankreichs. Hier werden 155-Millimeter-Granaten für die französischen Caesar-Artilleriegeschütze produziert. Diese werden von den ukrainischen Streitkräften eingesetzt. Fast zwei Jahre nach finanziellen Schwierigkeiten hat die Fabrik durch den Konflikt in der Ukraine einen Aufschwung erlebt. Foto: Lionel Bonaventure/AFP via Getty Images

Für die ukrainische Regierung sind die zahlreichen Schusswaffen, die sich im Besitz von Zivilisten befinden, problematisch. Zu den bis zu 5 Millionen Waffen könnten noch die im Kampf verlorenen oder zurückgelassenen – darunter auch russische – Waffen hinzukommen.

Waffen tauchen inzwischen fast überall auf. Selbst an Orten, an denen man sie nie erwarten würde. „Waffen werden auf Spielplätzen gefunden, Waffen werden in Wohnungen gefunden“, so Viktoriia Voronina, Geschäftsführerin des Center for Security Studies (CENSS) in Kiew.

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Zwischen Reformversprechen und Kontrollverlust

2021 gab das ukrainische Innenministerium bekannt, dass in dem Land mit damals fast 44 Millionen Einwohnern etwa 1,3 Millionen legale Schusswaffen in ziviler Hand waren. Vor dem Kriegsbeginn war der Besitz von Handfeuerwaffen jedoch für die Allgemeinheit verboten. Die Erteilung von Lizenzen unterlag vor allem dem Ermessen der Behörden, was zu einem intransparenten und oft als korrupt empfundenen System führte.

Nach dem 24. Februar 2022 reichte jedoch bereits ein einfacher Personalausweis aus, um Schusswaffen zu erhalten. Das ukrainische Parlament verabschiedete zudem am 24. März 2022 ein Gesetz, das den illegalen Besitz von Schusswaffen vorübergehend entkriminalisierte. Im Juni 2023 wurde zwar ein zentrales Registrierungssystem für Waffenbesitzer eingeführt, doch die Registrierung erfolgt derzeit noch auf freiwilliger Basis.

Der ukrainische Innenminister Ihor Klymenko räumte im vergangenen Jahr auch selbst ein, dass sich trotz formeller Registrierung eine bestimmte Anzahl von Waffen „illegal in den Händen von Bürgern“ befinde. „Aber wir verstehen ganz bewusst, dass sie in den Händen der Bürger sein müssen, weil Krieg herrscht“, sagte er damals.

Zugleich betonte er, dass sich die derzeitige Ausnahmesituation nach dem Ende des Kriegsrechts ändern müsse. „Nach Ablauf von 90 Tagen nach Beendigung des Kriegsrechts muss jeder Bürger seine Waffen der Polizei vorzeigen“, erklärte er im vergangenen Jahr. Dann müsse entschieden werden, ob die Waffen abgegeben, deaktiviert oder in eine zulässige Waffenkategorie überführt werden.

Der wichtigste Teil der Waffengesetzgebung, die Verabschiedung eines offiziellen Waffengesetzes, steht jedoch noch aus. Ein diesbezüglicher Gesetzentwurf wurde bereits 2022 in erster Lesung vom Parlament verabschiedet. Eine zweite notwendige Abstimmung hat seitdem jedoch noch nicht stattgefunden. Daher gelten derzeit im Wesentlichen weiterhin rechtlich weniger bindende Vorschriften und Richtlinien, abgesehen vom Kriegsrecht.

Aufgrund der EU- und NATO-Beitrittsbestrebungen wird die Rechtsreform auch von den Unterstützern der Ukraine aufmerksam verfolgt.

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Die Gefahr der Entstehung einer „Kalaschnikow-Gesellschaft“

Weniger als ein Jahr nach Beginn des Krieges veröffentlichte eines der bekanntesten ukrainischen Nachrichtenportale „Kyiv Independent“ einen Artikel, der die Einstellung der Bevölkerung zum Waffenbesitz untersuchte. Darin wurde ein bekanntes Phänomen beschrieben, das als „Kalashnikov-Gesellschaft“ bezeichnet wird. Gemeint ist damit, dass Kriege oft zur Verbreitung von Schusswaffen führen und nach dem Ende der Kämpfe in der Gesellschaft eine Art Kult um Waffen und Gewalt bestehen bleibt.

Es wurde untersucht, ob sich auch in der Ukraine eine solche „Kalashnikov-Kultur“ entwickeln könnte. Das heißt, ob das Land nach dem Krieg zu einem Ort wird, an dem bewaffnete Zivilisten und möglicherweise nichtstaatliche Selbstverteidigungsgruppen sogar die Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung untergraben könnten. Die Analysten waren zwar optimistisch, konnten jedoch keine zuversichtliche Antwort geben.

Ein Mann mit einem Kalaschnikow-Gewehr vom Typ AK-47 läuft am 25. Februar 2022 durch das Zentrum von Kiew. Foto: Daniel Leal / AFP via Getty Images

Vor dem Krieg war die Einstellung der Ukrainer zum Waffenbesitz eher gemischt. Während des Krieges wurde die öffentliche Meinung über mehrere Jahre hinweg untersucht, und es zeigte sich, dass ein immer größerer Prozentsatz der Bevölkerung Waffenbesitz befürwortete. Zumindest waren diejenigen, die Maßnahmen zur vorübergehenden Waffenfreigabe nach dem Kriegsbeginn für gut hielten, in der Überzahl gegenüber denen, die sie ablehnten.

Zwei Umfragen Mitte 2022 zeigten, dass fast 60 Prozent der Befragten das Recht auf Waffenbesitz unterstützten. Im Jahr 2018 hatten noch mehr als 70 Prozent der Befragten den Waffenbesitz abgelehnt.

Laut einer Umfrage des Small Arms Survey vom Dezember 2023 könnte das anfängliche Gefühl der Bedrohung mit der Zeit nachlassen. Wie sich also die gesellschaftliche Einstellung entwickeln wird, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht genau prognostizieren.

Selenskyj setzt auf die Stärke der Bürger

Analysten erwarten, dass nach dem Krieg eine ausführliche Debatte über die Regelungen zum Waffenbesitz stattfinden wird. Dies erscheint umso wahrscheinlicher, da Präsident Selenskyj selbst mehrmals angedeutet hat, dass er auch nach dem Krieg mit russischen Aggressionen rechnet und weiterhin auf die Eigeninitiative und Stärke der Bürger setzt.

Andrii Osadchuk, der 2022 stellvertretender Vorsitzender des Ausschusses für Strafverfolgung im ukrainischen Parlament war, erklärte bereits wenige Monate nach dem Kriegsbeginn: „Der Krieg hat die Einstellung zu Waffen verändert. Der Krieg zwingt uns, Waffen in den Händen der Bürger willkommen zu heißen.“

Weiter betonte Osadchuk, dass die Ukraine eine enorme Menge an Waffen verteilt habe, die man wahrscheinlich nicht mehr zurückholen könne. „Die Frage ist, ob wir es überhaupt versuchen sollten“, stellte er die rhetorische Frage.

Experten sind besorgt wegen Waffenschmuggel

Und wie blickt die EU auf die Entwicklung in der Ukraine? Die größte Sorge der EU bestehe darin, dass Klein- und Leichtwaffen aus der Ukraine geschmuggelt und in die Hände von Kriminellen und Terroristen gelangen könnten. So wie es bereits nach dem Balkankrieg vor über 30 Jahren geschehen ist. Dies erklärte schon kurz nach Beginn des Krieges Catherine De Bolle, die Direktorin der europäischen Polizeibehörde Europol gegenüber „Welt“.

Diese Sorge wird derzeit vor allem in Ungarn – als direktem Nachbarland der Ukraine – laut artikuliert. Viktor Orbán ist bislang der einzige Regierungschef der 27 EU-Mitgliedstaaten, der offen angekündigt hat, den EU-Beitritt der Ukraine blockieren zu wollen. Eines seiner Hauptargumente lautet: „In der Ukraine sind 800.000 Menschen bewaffnet – und sie waren bisher nicht gerade für ihre öffentliche Sicherheit bekannt.“

Das ITSS Verona, ein europäisches sicherheitspolitisches Forschungsnetzwerk mit Sitz in Verona, hat auch konkrete Analysen zu möglichen Schmuggelrouten veröffentlicht. Dabei wurde betont, dass die meisten illegalen Waffenbewegungen innerhalb des Landes stattfinden würden.

Es gibt zahlreiche mögliche zukünftige Landrouten für Waffenschmuggel über Nachbarländer wie Moldau, Rumänien, Ungarn, die Slowakei oder Polen. Die geografische Lage der Ukraine bietet zahlreiche Möglichkeiten. Foto: PeterHermesFurian/iStock

Die bedeutendsten internationalen Schmuggelrouten würden sich in der Zukunft kaum von jenen unterscheiden, die auch für andere Schmuggelwaren genutzt werden. Einer der wichtigsten Knotenpunkte sei dabei sehr wahrscheinlich die Hafenstadt Odessa an der Schwarzmeerküste.

Zugleich sind zahlreiche mögliche zukünftige Landrouten über Nachbarländer wie Moldau, Rumänien, Ungarn, die Slowakei oder Polen bekannt. Die Forscher weisen zudem darauf hin, dass nach einer Demobilisierung der Streitkräfte, insbesondere durch Söldner und Freiwillige vom Westbalkan, neue Routen entstehen könnten. Diese könnten in ihre Heimatländer zurückkehren und transnationale Schmuggelnetzwerke etablieren.

In Fachkreisen, die sich mit Schmuggel befassen, wird auch die Besorgnis der USA zum Ausdruck gebracht. Demnach könnten prorussische Truppen die Waffen der gefangenen ukrainischen Soldaten an sich nehmen und sie gegebenenfalls an Länder wie den Iran weiterverkaufen.



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