Zehn Jahre nach Merkels „Wir schaffen das“ – Blick zurück auf eine Entscheidung mit Folgen

Im September 2015 öffnete die damalige Bundeskanzlerin Merkel Deutschlands Grenzen und es kamen bis zum Folgejahr über 1 Million Flüchtlinge. Was hat Merkels Asylpolitik in Europa und in Deutschland bewirkt? Hängt der Aufstieg der AfD damit zusammen?
Titelbild
Kanzlerin Angela Merkel und Flüchtlinge machen am 10. September 2015 Selfies.Foto: Sean Gallup/Getty Images
Von 9. Juli 2025

Das Bundesinnenministerium erklärt in einem Post auf X, dass die Asylzahlen in Deutschland im Vergleich zum Vorjahr um 59 Prozent gesunken seien. Im Monatsbericht des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge wird dazu auf Seite 3 bekannt gegeben, dass bis Mai 54.004 Erstanträge sowie 8.893 Folgeanträge eingegangen seien.

Sinkende Asylzahlen kein Erfolg von Merz

Während die Bundesregierung den Erfolg der gesunkenen Asylzahlen ihrer neuen Politik der Grenzsicherung zuschreibt, verweist der Migrationsexperte Prof. Daniel Thym von der Universität Konstanz auf andere Gründe. Gegenüber „Bild“ äußerte Thym: „Die Zahlen gehen wegen der geänderten Situation in Syrien und der harten Grenzkontrollen in der Türkei und Tunesien zurück.“ Die verschärften Grenzkontrollen und vermehrten Zurückweisungen in Deutschland hätten laut Thym nur einen geringen Anteil an den sinkenden Zahlen.

Hält dieser Trend an, könnte Deutschland bis Ende des Jahres wieder in etwa die Zahlen von 2013 erreichen. Damals wurden 109.000 Erstanträge auf Asyl gestellt. Doch was passierte 2015, dass binnen zweier Jahre über 1 Million Flüchtlinge hauptsächlich aus Syrien und dem Irak nach Deutschland strömten?

Wie alles begann

Was 2011 als Proteste gegen das Regime des syrischen Präsidenten Bashar al-Assad begann, eskalierte schnell zu einem umfassenden Krieg zwischen der syrischen Regierung – unterstützt von Russland und dem Iran – und regierungsfeindlichen Rebellengruppen im Norden – unterstützt von den USA, Frankreich, Großbritannien, Italien, Saudi-Arabien, der Türkei, Jordanien und den Vereinigten Arabischen Emiraten. 2013 begann zudem der selbst ernannte Islamische Staat (ISIS), bestehend aus radikalen Muslimen, in Syrien und im Irak bis 2017 ein sogenanntes Kalifat zu errichten. Es kam zu Gräueltaten sowohl im Machtbereich Assads als auch in den sich rasch ausdehnenden Gebieten von ISIS. Assads Regime und ISIS wurde im Verlauf des Konflikts mehrfach der Einsatz chemischer Waffen vorgeworfen. Im Jahr 2015 spitzte sich die Lage in Syrien und im Irak dramatisch zu. Wer konnte, verließ das Land. Die meisten syrischen Flüchtlinge nahmen damals der Libanon und Jordanien auf. Aber auch die Türkei und darüber hinaus die Europäische Union wurden unter dem Druck der Flüchtlinge zunehmend zu Zielländern.

Obamas Fehler?

Der einstige Gouverneur von New Jersey, Chris Christie (Republikaner), war der erste Politiker, der Mitte November 2015 den damaligen amerikanischen Präsidenten Barack Obama (Demokrat) für die syrische Flüchtlingskrise verantwortlich machte. Christie zu CNN: Obama habe „die Flüchtlingskrise verursacht“. Hintergrund von Christies Vorwurf: Obama hatte Assad im Jahr 2012 gedroht, Ziele der syrischen Regierung anzugreifen, falls dieser weiterhin Chemiewaffen gegen seine Bevölkerung einsetze. Dies sei eine „rote Linie“. Werde diese überschritten, würden die USA eingreifen. Daraufhin stimmte Assad zu, unter Aufsicht internationaler Beobachter seine Chemievorräte außerhalb des Landes zu schaffen. Später stellte sich heraus, dass das Assad-Regime nur einen Teil seiner Chemiewaffen abtransportieren ließ und weiterhin Chemiewaffenangriffe durchgeführt wurden.

Doch Obama sprach nicht mehr über seine „rote Linie“ und griff nur im Norden Syriens mit Bodentruppen gegen ISIS ein. Christie noch einmal: „Der Präsident ist die Person, die diese ganze Situation geschaffen hat. Er hat sein Wort nicht gehalten, als er in Syrien eine rote Linie gezogen hat. Er hat die Situation in Syrien zugelassen, er hat keine Flugverbotszone eingerichtet, die diesen Flüchtlingen einen sicheren Zufluchtsort hätte bieten können, damit sie sicher in ihrem eigenen Land leben können.“

Diese These Christies wurde vom späteren Präsidenten Donald Trump aufgegriffen und wird von ihm bis heute behauptet. Würde sie zutreffen, hätte Obama seiner Amtskollegin Merkel einen Bärendienst erwiesen.

Auslöser: Toter Flüchtlingsjunge

Ende August 2015 spitzte sich die Lage in Europa und an den Außengrenzen dramatisch zu. Besonders der Fall des dreijährigen syrischen Jungen Alan Kurdi, der zusammen mit seiner Mutter und einem Bruder im Mittelmeer ertrank, bewegte weltweit die Herzen vieler Menschen. Das Foto der Leiche des kleinen Kindes, angespült am Strand bei der türkischen Stadt Bodrum, sorgte für Entsetzen und emotionalisierte viele Medien und Menschen in Europa.

2019 benannte die NGO Sea-Eye ihr Einsatzschiff „Alan Kurdi“ nach dem ertrunkenen syrischen Flüchtlingskind. Mit diesem führt sie Rettungsaktionen von Flüchtlingen im Mittelmeer durch. Foto: JAIME REINA/AFP/Getty Images

Drama in Ungarn

Der nicht mehr abreißende Zustrom von Flüchtlingen aus Syrien und dem Irak löste unter den EU-Mitgliedern zudem einen heftigen Streit über die Verteilung der Flüchtlinge aus. Während man in Brüssel an einer neuen Quotenregelung arbeitete, lehnten die osteuropäischen Mitgliedstaaten jegliche Aufnahme zusätzlicher Flüchtlinge ab. Es kam zu keiner Lösung. Vor allem in Ungarn, das das Endland der sogenannten Balkanroute von der Türkei nach Europa ist, spielten sich dramatische Szenen ab. Tausende Flüchtlinge saßen fest, da die ungarische Regierung keine Züge mehr fahren ließ. Weitere Tausende wehrten sich dagegen, in Flüchtlingslagern untergebracht zu werden, da sie weiter nach Österreich und Deutschland reisen wollten. In den ungarischen Lagern wurden die Flüchtlinge teils wie Tiere in Käfigen gehalten. Ihnen wurden Brot und Getränke über einen Zaun zugeworfen. Es herrschten unmenschliche Bedingungen.

Merkels humanitäre Entscheidung

Unter den Eindrücken der täglichen Berichterstattung deutscher Medien über die Gesamtsituation sowie über dramatische Einzelschicksale entschloss sich Bundeskanzlerin Angela Merkel zu jenem Schritt, der ihr bis heute viel Respekt, aber bei Kritikern – auch in der eigenen Partei – heftige Ablehnung einbringt.

„Wir schaffen das“, gab sie sich am 31. August 2015 während der Bundespressekonferenz zuversichtlich und entschied sich dazu, alle Flüchtlinge aus Ungarn sowie weitere zu erwartende Flüchtlinge in Deutschland aufzunehmen. Merkel hielt sich mit dieser Entscheidung nachweislich nicht an das sogenannte Dublin-Abkommen, in dem die Aufnahme von Asylbewerbern geregelt ist. Demzufolge ist das EU-Land, in dem ein Flüchtling zuerst europäischen Boden betritt, für das Asylverfahren zuständig. Das wäre für nahezu alle Nahost-Flüchtlinge Griechenland gewesen.

Der Europäische Gerichtshof stellte am 26. Juli 2017 in einem Urteil fest, dass Merkel insofern rechtens gehandelt habe, als jedes EU-Land freiwillig Asylbewerber aus humanitären Gründen aufnehmen könne, auch wenn es für die Asylanträge nicht zuständig sei. Andererseits machte das EU-Gericht auch deutlich, dass das Dublin-Abkommen auch während der Krise von 2015 rechtens war. Folglich war Merkels Versuch, andere EU-Staaten moralisch unter Druck zu setzen, einen Teil der nach Deutschland Geflüchteten aufzunehmen, nicht korrekt.

Aufgrund Merkels damaliger moralisierender Politik gegenüber den osteuropäischen Staaten verschlechterten sich die Beziehungen zu diesen auf allen Ebenen deutlich. Insbesondere Ungarn, die Slowakei und Polen pflegen deshalb bis heute ein distanziertes Verhältnis zu jedweder Bundesregierung. Aber auch innenpolitisch verursachte Merkels Alleingang in der Flüchtlingskrise erhebliche Auswirkungen.

Merkel „die Mutter der AfD“?

Stephan Hebel, Redakteur der linksgerichteten „Frankfurter Rundschau“ und Autor des Merkel-Buches „Mutter Blamage und die Brandstifter“, sinnierte bereits 2017 darüber, ob folgende These zutreffe: Mit der Entscheidung vom September 2015, die Grenzen vorübergehend für Flüchtlinge zu öffnen, habe die Kanzlerin den Aufstieg der Alternative für Deutschland erst richtig in Gang gebracht. Die CDU-Vorsitzende habe ihre Partei insgesamt „nach links“ geführt und damit das nationalkonservative Wählerpotenzial gewissermaßen zur Flucht in eine neue politische Heimat gezwungen. Hebel glaubt zwar nicht daran, dass dies der einzige Grund für den Aufstieg der AfD gewesen sei, findet aber in der heutigen CDU und CSU für diese These kräftig Zustimmung. Der ehemalige CSU-Chef und bayerische Ministerpräsident Horst Seehofer sagte im vergangenen Jahr gegenüber der Presse:

Eine der schlimmsten Folgen von Merkels Kurs ist das gefährliche Aufblühen der AfD.“

Der baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl (CDU) distanzierte sich im Januar ebenfalls deutlich von der Flüchtlingspolitik seiner ehemaligen Parteichefin. Im SWR äußerte er: „Den Satz ‚Wir schaffen das‘ fand ich nicht so schlimm. Ich war allerdings unterschiedlicher Meinung bei einem anderen Satz, weil die damalige Bundeskanzlerin hat einmal gesagt: ‚Wir können unsere Grenzen nicht schützen.‘ Diesen Satz halte ich für falsch.“

Der Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger wurde im Februar in einem Interview mit der Mediengruppe Bayern deutlicher: „Merkel hat 2015 das Desaster eingeleitet, von dem wir uns bis heute nicht erholt haben. Die Ampel hat es die letzten Jahre noch verschärft. Merkel ist auch die Mutter der AfD.“ Merkel konterte Anfang des Jahres in einem Gespräch mit der „Zeit“:

Als ich aus dem Amt schied […] und wir auch noch Corona hatten, lag die AfD bei etwa elf Prozent. Dass sie heute bei 20 Prozent liegt, ist jetzt echt nicht mehr meine Verantwortung.“

Obergrenze für Asylrecht?

In jüngster Zeit wurde wiederholt die Forderung erhoben, eine „Obergrenze“ für die Aufnahme von Asylsuchenden einzuführen. Damit würde Deutschland das individuelle Asylrecht abschaffen und müsste in der Folge zahlreiche internationale Verträge kündigen. Dazu gehören etwa die Genfer Flüchtlingskonvention und die Europäische Menschenrechtskonvention. Auch ein Austritt aus der EU wäre erforderlich, da das Asylrecht Bestandteil der EU-Grundrechtecharta ist.



Epoch TV
Epoch Vital
Kommentare
Liebe Leser,

vielen Dank, dass Sie unseren Kommentar-Bereich nutzen.

Bitte verzichten Sie auf Unterstellungen, Schimpfworte, aggressive Formulierungen und Werbe-Links. Solche Kommentare werden wir nicht veröffentlichen. Dies umfasst ebenso abschweifende Kommentare, die keinen konkreten Bezug zum jeweiligen Artikel haben. Viele Kommentare waren bisher schon anregend und auf die Themen bezogen. Wir bitten Sie um eine Qualität, die den Artikeln entspricht, so haben wir alle etwas davon.

Da wir die Verantwortung für jeden veröffentlichten Kommentar tragen, geben wir Kommentare erst nach einer Prüfung frei. Je nach Aufkommen kann es deswegen zu zeitlichen Verzögerungen kommen.


Ihre Epoch Times - Redaktion