Gesundheitssystem unter Druck: Wohin steuert die Krankenversicherung?

Der Bundesrechnungshof warnt vor einer dramatischen Finanzierungslücke in der gesetzlichen Krankenversicherung. Schon jetzt steigen die Zusatzbeiträge stärker als erwartet – bei einzelnen Kassen bis über 4 Prozent. Politik, Verbände und Experten ringen heftig um Reformen, doch die Versicherten zahlen längst die Zeche.
Der Streik ist zunächst aufgeschoben. Wie es weitergeht, sollen nun die Ärztinnen und Ärzte in einer Urabstimmung entscheiden. (Archivbild)
Symbol für ein System am Limit: Krankenhäuser geraten zunehmend unter finanziellen Druck.Foto: Arne Dedert/dpa
Von 24. August 2025

Die Warnung ist scharf, die Folgen könnten gravierend sein: Der Bundesrechnungshof warnt davor, dass die Zusatzbeiträge in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bis 2029 auf über 4 Prozent steigen könnten – sofern nicht rasch Reformen umgesetzt werden.

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Schon jetzt ächzen die Krankenkassen unter Rekorddefiziten. Im vergangenen Jahr wiesen die Gesetzlichen Krankenkassen (GKV), nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums, ein Defizit von rund 6,2 Milliarden Euro aus. Im Jahr 2023 betrug das Defizit, laut Bundesgesundheitsministerium, noch bei rund 1,9 Milliarden Euro. Im Vergleich zu 2023 hat sich das Defizit im vergangenen Jahr also mehr als verdreifacht.

Wie das Bundesgesundheitsministerium im März weiter mitteilte, verschärfte sich in erster Linie im Schlussquartal die Lage, als sich das Defizit gegenüber den ersten neun Monaten nochmals um fast 70 Prozent erhöhte. Nach Ministeriumsangaben standen 2024 Einnahmen von 320,6 Milliarden Euro Ausgaben von 326,9 Milliarden Euro gegenüber. Während die Zahl der Versicherten nur minimal um 0,3 Prozent zunahm, kletterten die Ausgaben für Leistungen und Verwaltung um 7,7 Prozent. Die Finanzreserven der Krankenkassen betrugen zum Jahresende nur noch 2,1 Milliarden Euro – das sind rund 0,08 Monatsausgaben. Gesetzlich vorgesehen ist eine Mindestreserve von 0,2 Monatsausgaben.

Was kommt bald auf die Versicherten zu? Werden die Beiträge steigen, Leistungen gekürzt oder neue Gebühren eingeführt? Die Debatte betrifft nicht nur politische Gremien in Berlin, sondern jeden Arbeitnehmer und Rentner im Land.

Warum eskaliert die Krise?

Das deutsche Gesundheitssystem gilt international als eines der leistungsfähigsten. Doch es gerät zunehmend aus dem finanziellen Gleichgewicht. Drei zentrale Faktoren erklären die Schieflage:

Demografie: Die Gesellschaft altert rapide. Immer mehr Menschen treten in den Ruhestand, zahlen also keine vollen Beiträge mehr ein, während gleichzeitig die Kosten für ihre medizinische Versorgung steigen. Altersmedizin, Pflege und chronische Erkrankungen treiben die Ausgaben in die Höhe – ohne, dass entsprechende Einnahmen nachkommen.

Das Statistische Bundesamt (Destatis) schrieb schon 2023 in einem Bericht, bis 2035 wird in Deutschland jeder dritte Mensch über 60 Jahre alt sein. Zudem wird die Altersgruppe 67+ von rund 18 Millionen (Stand 2023) auf ca. 21 Millionen im Jahr 2035 wachsen.

Kostenentwicklung: Der medizinische Fortschritt ist Fluch und Segen zugleich. Moderne Medikamente, innovative Therapien und Hightech-Diagnostik verbessern die Versorgung, lassen aber die Kosten explodieren.

Der Verband der Ersatzkassen (vdek) berichtet, dass die Leistungsausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung 2024 auf 312,3 Milliarden Euro angestiegen sind. Das entspricht einer Steigerung von 8,2 Prozent. Vor allem im Krankenhaus- und Arzneimittelbereich, so der vdek, seien die Kosten im vergangenen Jahr gestiegen. Zudem seien die Ausgaben für Rettungsdienst, Pflege und ambulante Behandlungen deutlich gestiegen.

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Politische Versäumnisse:  In den vergangenen Jahren sind mehrere wichtige Instrumente zur Kostendämpfung im Gesundheitswesen abgeschafft oder abgeschwächt worden. So wurde etwa die Praxisgebühr, die bis 2012 sowohl Einnahmen brachte als auch die Zahl unnötiger Arztbesuche begrenzen sollte, ersatzlos gestrichen. Auch bei den Vorgaben im Arzneimittelbereich wurden Preisbremsen und Steuerungsmechanismen gelockert, sodass die Ausgaben für Medikamente wieder deutlich schneller steigen konnten.

In diesem Jahr wird mit einem deutlichen Anstieg der Ausgaben für Arznei- und Heilmittel gerechnet. Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung wird das Ausgabevolumen um 5,1 Prozent bei Arzneimitteln zunehmen und bei Heilmitteln bei einem Plus von 3,5 Prozent liegen.

Die Krankenhausreform ist zum 1. Januar 2025 in Kraft getreten und soll die Kliniklandschaft in Deutschland modernisieren. Trotz der Einführung eines Transformationsfonds von bis zu 50 Milliarden Euro kritisieren Experten die Reform. So sagte der Vorstandsvorsitzende der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG), Dr. Gerald Gaß, dazu vor einigen Tagen:

„Wir unterstützen die Richtung der Reform ausdrücklich. Aber in der Ausgestaltung sehen wir noch erheblichen Nachbesserungsbedarf. Viele Regelungen sind zu starr, zu bürokratisch und gefährden die flächendeckende Versorgung. “

Wichtige Strukturformen wie eine effizientere Verteilung der Klinikstandorte und klare Prioritätensetzungen blieben bisher allerdings aus. Die Deutsche Krankenhausgesellschaft warnt, dass die Reform eigentlich gemacht wurde, um die finanziellen und versorgungspolitischen Herausforderungen zu bewältigen, vor allem in ländlichen Regionen.

Welche Lösungsansätze diskutiert werden

Die Krise zwingt alle Beteiligten, über tiefgreifende Veränderungen nachzudenken. Der Katalog möglicher Maßnahmen ist breit – und für Versicherte keineswegs beruhigend.

Beitragserhöhungen: Der einfachste Weg, kurzfristig Geld in die Kassen zu spülen, ist die Anhebung des Zusatzbeitrags. Prognosen zufolge könnte er in den kommenden Jahren massiv steigen. Der Chef der Techniker Kranken­kasse (TK), Jens Baas, prognostizierte schon im vergangenen Jahr in einem Interview mit dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“ einen Beitragsanstieg von bis zu 20 Prozent bis 2030. Wörtlich sagte der Krankenkassenchef:

„Wir bewegen uns bis zum Ende des Jahrzehntes ungebremst auf einen Beitragssatz von 20 Prozent zu – wenn es keine Gegenmaßnahmen gibt. Die Politik kann nicht immer nur Gesetze machen, die zu höheren Ausgaben führen. Es muss endlich auch darum gehen, wie wir die steigenden Kosten in den Griff bekommen.“

Leistungskürzungen: Der Bundesrechnungshof fordert in seinem Bericht, nach Angaben der Nachrichtenagentur AFP, ausdrücklich Einschnitte in allen Leistungsbereichen. Was das im Alltag bedeutet, ist offen – es könnte von der Streichung bestimmter Vorsorgeuntersuchungen bis hin zu Einschränkungen bei Hilfsmitteln reichen.

Neue Gebühren: Arbeitgeberverbände bringen die Einführung einer Arztbesuchsgebühr ins Spiel. Die Idee: Wer für jeden Termin selbst zahlen muss, überlegt sich genauer, ob der Gang zum Arzt wirklich nötig ist. Kritiker sehen darin jedoch eine soziale Schieflage, da gerade einkommensschwache Menschen medizinische Hilfe dann womöglich zu spät in Anspruch nehmen.

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Wie machen es andere Länder?

Ein Blick über die Grenzen zeigt, dass Deutschland nicht allein mit dem Problem ringt – andere Länder haben längst reagiert, allerdings mit teils schmerzhaften Konsequenzen für die Versicherten.

In der Schweiz haben Versicherte die freie Wahl zwischen über 90 Krankenkassen, wenn man nicht nur die etablierten großen Krankenkassen berücksichtigt, sondern auch zahlreiche kleinere regionale Anbieter, Gruppierungen und spezielle Versicherer einbezieht. Offiziell gibt es aktuell rund 37 zugelassene Krankenkassen für die obligatorische Grundversicherung, wobei die Leistungen standardisiert sind – Unterschiede zeigen sich hingegen bei Prämien und Servicequalität.

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Gleichzeitig müssen die Versicherten beträchtliche Eigenleistungen tragen: eine jährlich wählbare Franchise von mindestens  300 Schweizer Franken (rund 319 Euro) bis maximal 2. 500 Franken (ca. 2.660 Euro) sowie 10 Prozent Kostenbeteiligung über die Franchise hinaus, gedeckelt bei 700 Franken (rund 745 Euro) – für Kinder 350 Franken (rund 373 Euro). Für einkommensschwache Haushalte hat sich die Prämienbelastung im Laufe der letzten Jahre deutlich erhöht – aktuell geben diese im Durchschnitt 14 Prozent ihres Einkommens für Krankenkassenprämien aus (2007 waren es knapp 9 Prozent).

In den Niederlanden garantiert seit 2006 ein einheitliches, verpflichtendes Basisversicherungssystem sozialen Ausgleich: Alle Erwachsenen zahlen pro Jahr einen festgesetzten Selbstbehalt von rund 385 Euro, Leistungen wie der Hausarztbesuch sind davon jedoch ausgenommen. Wer bereit ist, einen höheren Selbstbehalt – bis zu 500 Euro zusätzlich – zu akzeptieren, erhält dafür niedrigere monatliche Beiträge. Die Hausärzte fungieren zudem als „Gatekeeper“: Ein Facharztbesuch ist in der Regel nur mit Überweisung möglich, was die Steuerung und Effizienz der Versorgung erhöht.

In Skandinavien – beispielsweise in Schweden – wird das Gesundheitssystem überwiegend über die Einkommenssteuer finanziert: 2022 entfielen dort, nach Angaben der WHO, rund 86 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben auf öffentliche Mittel, während etwa 13 Prozent der Gesundheitsausgaben aus Eigenleistungen (OOP) stammten, hauptsächlich für Arzneimittel, Zahnbehandlungen und ambulante Versorgung. Etwa 1 Prozent stammt von freiwilligen Zusatzversicherungen.

Auch in Norwegen erfolgt die Finanzierung primär durch Steuern: Der Anteil öffentlicher Gelder an den gesamten Gesundheitsausgaben liegt laut „KBV klartext“ bei 85,3 Prozent.

Gesundheit hat ihren Preis – und die Versicherten zahlen ihn

Die Finanzmisere der Krankenkassen ist kein abstraktes Milliardenproblem, sondern eine Entwicklung, die jeden Einzelnen betreffen wird. Steigende Zusatzbeiträge könnten das verfügbare Nettoeinkommen merklich schmälern. Neue Gebühren beim Arztbesuch sind keine ferne Theorie mehr, sondern stehen konkret zur Diskussion. Auch Leistungskürzungen oder mehr Eigenbeteiligungen sind möglich, wenn Reformen weiter verschleppt werden.

Damit rückt eine Frage in den Mittelpunkt: Welche Versorgung soll und darf uns die Gesundheit wert sein – und wer trägt die Lasten? Während sich die politischen Lager gegenseitig Verantwortung zuschieben, wächst bei Versicherten die Sorge, dass am Ende vor allem sie zur Kasse gebeten werden.



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