Genormte Akustik: Warum Lehrer laut werden und Schüler schlecht hören

„Wenn die Schüler in der letzten Reihe wenigstens so leise wären wie die, die in der dritten Reihe Comics lesen, könnten die in der zweiten Reihe weiterschlafen, um die in der ersten Reihe nicht beim Lernen zu stören.“ Klingt überspitzt? Beruht aber auf einer wahren Begebenheit. Zahlreiche Lehrer und mitunter auch Schüler finden sich darin wieder. Ob man als Lehrer sein eigenes Wort (nicht) versteht, hängt indes von weiteren Faktoren ab, zum Beispiel von der Akustik. Ein „leises“ Klassenzimmer ist dabei nicht unbedingt wünschenswert. Warum, zeigt die Praxis.
Um die Lautstärke zu reduzieren, werden Klassenzimmer schalldämpfend aus- und umgebaut: mit sogenannten akustisch wirksamen Decken, schallabsorbierenden Wänden, schweren Vorhängen und Teppichböden. Das macht jedoch die Schüler nicht leiser. Es bewirkt zwar, dass der Raum nicht hallig klingt, schluckt aber auch die Stimme der Lehrer.
Große Probleme in leisen Räumen
„Ich schäme mich, weil ich anfangs die Ruhe auch gelobt habe“, berichtete die Erzieherin eines Kindergartens. Sie möchte anonym bleiben. „Aber wenn die Kinder so richtig ausgelassen spielen, dann ist hier alles beim Alten.“ Sie spricht von einem Raum, der normgerecht nachgerüstet wurde, und von schrillem Lärm in ebenjenem Raum, der in den Ohren klirre und schmerzhaft steche.
In Schulen kein anderes Bild: „Der Unterricht in solchen Räumen ist extrem anstrengend“, weiß ein Lehrer. Weiter sagte er: „Man muss permanent lauter sprechen. Und man muss unheimlich die Ohren spitzen, um die Schüler zu verstehen.“
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Ein stellvertretender Schulleiter beschreibt seinen neuen Inklusionsraum etwas drastischer. Normgerecht für die Inklusion Hörgeschädigter ist der Raum noch stärker bedämpft worden, aber:
Niemand unterrichtet hier mehr gern. Manche empfinden den Raum sogar als deprimierend.“
Alle Fälle eint: Die scheinbare Ruhe wurde zu einer dröhnenden Stille und die anfängliche Freude wich anhaltender Ernüchterung – und Resignation, denn arbeitsrechtlich ist das, was die Norm vorgibt, wasserdicht. „Der Raum liegt noch gerade im arbeitsrechtlich zulässigen Bereich. Wir können nichts machen“, beklagte eine weitere Schulleiterin den jüngst nachgerüsteten Inklusionsraum in ihrer Einrichtung.
Darüber zu sprechen, ist schwierig, auch weil die Situation nach einer solchen Umbaumaßnahme doch eigentlich besser sein sollte, misstrauen Betroffene zuerst sich selbst und leiden still. Hinzu kommen das Beschäftigungsverhältnis und der gesellschaftliche Druck, die zum Schweigen drängen. Dabei stehen Kindergärtnerinnen, Lehrer und Direktoren voll und ganz hinter der Inklusion der Schüler, die auf Hörgeräte angewiesen sind.
Eine Norm für alle Fälle?
Bei besagter Norm handelt es sich um die DIN 18041 „Hörsamkeit in Räumen“. Darin heißt es unter Punkt 4.2.3 „Anforderungen an die Nachhallzeit“: „Im Zweifelsfall sollten in Räumen zur Sprach-Information und -Kommunikation eher kürzere als längere Nachhallzeiten realisiert werden.“ Die Einschätzung des Nachhalls als Kriterium für „gute Hörsamkeit“ passt hingegen nicht zur Realität von Schallenergie und nicht zu dem, was Sprache ausmacht.
Mit der Novelle der Richtlinie VDI 2569 vom Oktober 2019 hat sich der Nachhall auch als Leitgröße für Büroräume durchgesetzt. Oft hört man dort kaum mehr als das Klappern der Tastaturen oder den fast einer Bibliothek angemessenen Austausch zweier Kollegen, damit die anderen nicht gestört werden. Kurz: Je leiser, desto besser.
Der Verein Deutscher Ingenieure bezieht sich somit auch für Mehrpersonenbüros auf ebenjenes Kriterium, das gemäß DIN 18041 die besten Bedingungen für den sprachlichen Austausch in Besprechungs- oder Klassenräumen bieten soll. Mit anderen Worten, kurze Nachhallzeiten sollen im Großraumbüro gegenseitige Störungen vermeiden, aber in Klassenräumen die Verständigung verbessern. Sozusagen die gleiche „Medizin“ für genau gegensätzliche Erwartungen?
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Sprache ist mehr als nur Stimme
„Die stärksten Frequenzanteile gesprochener Sprache liegen zwischen 300 Hz und 500 Hz“, erklärt der Akustiker Christian Nocke in seiner Publikation „Raumakustik im Alltag“ (Fraunhofer IRB Verlag, 2019). Energetisch betrachtet ist das korrekt. Aber Sprache kodiert in diesem Frequenzbereich fast nichts.
Sprachlaute werden nämlich eben nicht mit der Stimme gebildet, sondern ausschließlich energiearm durch Lautbildungen im Mundraum – im Rachen und Gaumen, mit der Zunge, durch Formung der Mundhöhle. Und so kodiert Sprache überwiegend höherfrequent: All diese Rausch-, Zisch-, Klick- oder Plopplaute sind äußerst energiearm.
Mit einfachen Versuchen könnte man das gut veranschaulichen. Aber schon der schlichte Alltag bietet wertvolle Hinweise:
Man kann im sogenannten Flüsterton umfänglich diskutieren, wenn andere nicht gestört werden oder einfach nicht mithören sollen. Schon lautes Rufen über die belebte Straße hinweg enthält besser nur einfache Botschaften. Und Gebrüll erübrigt sich nicht nur in Verbalausbrüchen inhaltlich bescheiden, sondern auch informell, weil im weit aufgerissenen Mundraum viele differenzierende Laute gar nicht mehr abgebildet werden können.

Die inhaltliche Tiefe eines Gesprächs nimmt mit zunehmender Lautstärke oft ab – womöglich ein Grund, warum sich Anhänger gegnerischer Mannschaften mitunter nicht verstehen. Foto: MajaArgakijeva, Rawpixel/iStock
Die Realität von Unterricht oder Seminaren in sogenannten Kommunikationsräumen ist keine andere. Wenn Lehrkräfte mit ständig erhobener Stimme sprechen müssen, dann hat die Resignation Oberhand gewonnen. Wo Lehrkräfte schließlich versuchen, sich rufend Gehör zu verschaffen, da findet Unterricht nicht mehr statt. Dozenten brechen unter diesen Umständen eine Weiterbildung auch einfach mal ab, weil sie gegenüber erwachsenen Seminarteilnehmern keine „Aufsichtspflicht“ haben.
Unter günstigen Bedingungen sprechen Lehrkräfte oder Dozenten mit ruhiger Stimme – und werden dennoch auch hinten im Raum gut verstanden. Oder auch wer ganz hinten sitzt, kann eine Frage stellen oder einen Wortbeitrag leisten, ohne sich lauthals Gehör verschaffen zu müssen.
Anforderungen für Akustik ohne wissenschaftliche Begründung
Im Widerspruch zu den eingangs geschilderten Erfahrungen von Erziehern und Lehrern wird in der DIN 18041 festgestellt, dass in durchschnittlichen Klassenräumen „keine Gefahr zur akustischen Überdämpfung“ bestehe. Damit einhergehend stellt man fest: Der Direktschall der Sprache reiche bis 8 Meter Distanz vollkommen aus.
Gegenteilige Äußerungen von denen, die in den Räumen arbeiten, kommen vermeintlich oder tatsächlich bei Planern in den Kommunen oder im Ingenieurwesen nicht an. Natürlich nicht, denn wo das Arbeitsrecht erfüllt ist, wird Widerspruch schon an Ort und Stelle erstickt. Und so zeigen sich alle, die etwas zu planen oder zu entscheiden haben, allein konfrontiert mit Menschen, die mit Bedämpfungsmaßnahmen zufrieden und über die „Ruhe“ erleichtert seien.
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Die Ruhe hat indes einen Haken: Wer die Norm liest, findet eingangs die Aussage:
Eine vollständig wissenschaftlich begründbare Ableitung für genaue numerische Anforderungswerte ist hierfür zurzeit nicht bekannt.“ (DIN 18041, Anwendungsbereich)
Als könne es diesen Mangel ausgleichen, schwingt im darauffolgenden Satz eine Portion Selbstgewissheit mit. So heißt es dort weiter: „Man weiß aber, dass sich eine angemessen starke Raumbedämpfung günstig auf die Hörsamkeit auswirkt.“ Jegliche Regressstreitigkeiten bleiben durch solch vage Formulierungen von vornherein außen vor.
Und wenn nun Fachleute oder Fachverbände publizieren, DIN 18041 sei rechtlich bindend und deren Beachtung gesetzlich verpflichtend, dann muss man sich fragen, welche Interessen hinter solchen Behauptungen stecken mögen.
Die Überschneidung verschiedener Funktionen in Personalunion trägt dabei nicht gerade zur Objektivität bei. So ist der Vorsitzende des Normen-Unterausschusses für DIN 18041 zugleich Vorsitzender des Fachausschusses Bau- und Raumakustik der Deutschen Gesellschaft für Akustik (DEGA e. V.), (Mit-)Autor zahlreicher Fachpublikationen, einschließlich DIN 18041, und (Mit-)Inhaber mehrerer Unternehmen im Bereich der Akustik.
Akustik am Bau: Was kann, was soll, was muss?
Im Gegensatz zur DIN 18041 ist die von der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin herausgegebene Arbeitsschutzrichtlinie „ASR A3.7 – Lärm“ für „eine andere Lösung“ und somit für technischen Fortschritt offen. Dafür muss man „mindestens die gleiche Sicherheit und den gleichen Schutz der Gesundheit für die Beschäftigten erreichen“, so zu lesen in der Einleitung der Richtlinie.
Gleichzeitig wird der rechtliche „Freispruch“ für diejenigen vorausgeschickt, die sich an den technischen Vorschriften, sprich Nachhallzeiten, orientieren:
Bei Einhaltung dieser technischen Regel kann der Arbeitgeber davon ausgehen, dass die entsprechenden Anforderungen der Verordnung erfüllt sind.“
Einerseits trägt das nicht unbedingt dazu bei, sich konsequent an der Klarheit der Sprachkommunikation auszurichten. Andererseits decken sich die Erwartungen der ASR A3.7 zumindest für Kommunikationsräume weitreichend mit denen von DIN 18041. Da fällt die klare Unterscheidung zwischen Kann, Soll und Muss offenbar nicht leicht.
Anwälte heben indes unmissverständlich hervor und untermauern durch richterliche Urteile eindeutig, wie die Rechtsprechung zu sogenannten Richtlinien steht. Demnach kann man sie anwenden, handelt aber in Eigenverantwortung. Damit muss man auch dafür geradestehen, einschließlich eventuell fälliger Schadenersatzansprüche oder der Nachbesserung.
Damit ist Fakt, die DIN 18041 bleibt eine rein privatrechtliche Richtlinie. Der „DIN/VDI-Normenausschuss Akustik, Lärmminderung und Schwingungstechnik“ ist eine von DIN e. V. und VDI e. V. gemeinsam getragene und damit ebenso privatrechtliche Organisation. Zugleich nimmt sie jedoch für sich in Anspruch, DIN 18041 gelte als „allgemein anerkannte Regel der Technik“.
30 Jahre Debatten – in Schall und Rauch aufgelöst?
Wie weit die Anerkennung der Norm wirklich reicht, ist durchaus fraglich. Vonseiten der Technik gibt es seit den 1990er-Jahren sogenannte Kantenabsorber. Da diese bereits für spürbar mehr Klarheit bei gleichzeitig nur gering verkürzten Nachhallzeiten sorgen, stehen Letztere seither als Kriterium in der gegebenen Weise vehement infrage. Selbst über zwei Jahrzehnte später – auf der Jahrestagung der DEGA im Jahr 2019 – wurden wesentliche Aspekte der vermeintlich allgemein anerkannten Norm noch hitzig debattiert.
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Überwiegend kritiklos hingenommen und selten angefochten wird die Norm erst seit 2022. Änderungen fanden zwischenzeitlich nicht statt. Im Gegenteil, die DIN 18041 wurde Ende 2021 vom Normen-Unterausschuss in der seit März 2016 gültigen Fassung abermals bestätigt.
Wenn es nun also heißt, „Die Norm ist im Bauwesen seit Langem als anerkannte Regel der Technik eingeführt“ und „In Deutschland ist der Begriff der anerkannten Regel der Technik gesetzlich verankert“, so enthält das gleich zwei Ungenauigkeiten. Zum einen steht infrage, ob DIN 18041 „allgemein anerkannt“ ist. Zum anderen ist der Begriff der „allgemein anerkannten Regel der Technik“ keinesfalls gesetzlich verankert. Er wurde auf dem Wege der Auslegung und Rechtsprechung als Orientierung eingeführt.
Erst die Ausschreibung macht genormte Akustik zur Pflicht
Tatsächlich aber zeigt der Hinweis auf das „Gesetz“ Wirkung und spricht die Adressaten, vor allem Entscheidungsträger in öffentlichen Behörden und in Ingenieurbüros, erfolgreich an. Und so wird die Raumakustik betreffend vorzugsweise „gemäß DIN 18041“ ausgeschrieben und gebaut. Sei es aus Furcht oder Vertrauen, an der Norm führe kein Weg vorbei. Jedoch macht erst die ausdrückliche Benennung im Ausschreibungstext die Norm zum Bestandteil der späteren rein zivilrechtlichen Verträge.
Würde hingegen ergebnisorientiert und lösungsoffen ausgeschrieben, könnten auch technische Innovationen leicht eingesetzt werden, die für eine hohe Sprachklarheit sorgen. Solange hingegen etwa Kantenabsorber zwar – zusätzlich – eingesetzt werden können, aber bestimmte Nachhallzeiten gemäß Norm zwingend erreicht werden müssen, erzeugen solche Produkte Zusatzkosten. Dabei könnten sie bei zugleich höherer Effektivität sogar kostensparend eingesetzt werden.

Kantenabsorber mit Elementen zur Schallreflexion in einem Klassenzimmer. Die Elemente sind auch in Weiß erhältlich. Foto: Gerhard Ochsenfeld
Das gilt nicht minder für eine erst seit 2020 verfügbare Abwandlung solcher Kantenabsorber. Durch die Einbeziehung gezielter Reflexion steigern sie die Klarheit von Sprache und Musik erheblich, obwohl die Nachhallzeiten nicht die Norm erfüllen.
Noch deutlicher als mit herkömmlichen Kantenabsorbern wird mit dieser Neuentwicklung klar, dass Nachhallzeiten kein gültiges Kriterium für gute Sprachverständlichkeit sind und Inklusion sogar ohne elektrisch unterstützte Akustik gelingt. Das System verstärkt genau das, was auch Hörgeräte brauchen, um Sprachlaute gut unterscheidbar wiederzugeben: insbesondere die höheren Frequenzen.
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