Der Sturz des mächtigen Mannes hinter Selenskyj – wie geht es jetzt weiter?

Der Rücktritt von Andrij Jermak hat die ukrainische Politik erschüttert. Der wichtigste Vertraute und Bürochef Selenskyjs musste nach einem weitreichenden Korruptionsskandal gehen. Sein abruptes Ausscheiden hinterlässt ein Machtvakuum im Präsidentenamt. Die nächsten Wochen könnten entscheidend sein.
Titelbild
Der Leiter des Büros des Präsidenten der Ukraine, Andrij Jermak (l.), mit dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj am 15. Januar 2025.Foto: Sergei Gapon/AFP via Getty Image
Von 3. Dezember 2025

In Kürze:

  • Ein Korruptionsskandal in Höhe von 100 Millionen US-Dollar hat in den vergangenen Tagen zum Rücktritt der rechten Hand des ukrainischen Präsidenten geführt.
  • Der Verlust dieser Schlüsselfigur könnte das gesamte Machtgefüge des Präsidenten ins Wanken bringen.
  • Der Rücktritt weist auf ein zunehmend angespanntes politisches Klima in Kiew hin.
  • Während sich der Skandal weiter ausweitet, reagiert Moskau verhalten optimistisch.

 

Andrij Jermak, der Bürochef des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und bisherige zentrale Figur bei den Friedensgesprächen, sah sich am Freitag, 28. November – praktisch nur wenige Stunden vor den geplanten Verhandlungen mit der Trump-Regierung – aufgrund eines ausufernden Korruptionsskandals zum Rücktritt gezwungen.

Nachdem die ukrainische Antikorruptionsbehörde NABU eine Razzia in seinem Haus durchgeführt hatte, trat Jermak zurück und teilte kurz darauf mit:

„Man hat mich gedemütigt, und meine Würde wurde nicht geschützt, obwohl ich seit dem 24. Februar 2022 in Kiew bin. […] Deshalb will ich Selenskyj keine Probleme bereiten, ich gehe an die Front. […] Ich bin ein ehrlicher und anständiger Mensch“, schrieb er am Freitag in einer Textnachricht an die „New York Post“.

Er machte keine Angaben dazu, wann und wie er sich den ukrainischen Verteidigungskräften anschließen würde. Der Verlust von Selenskyjs rechter Hand könnte jedoch nicht nur den Fortschritt der Friedensverhandlungen beeinflussen.

Der wegen seiner charakteristischen Militärkleidung auch als „Grüner Kardinal“ bekannte Politiker soll Berichten aus Kiew zufolge maßgeblichen Einfluss auf die Politik des Landes gehabt haben. Viele rätseln nun darüber, welche Veränderungen in Kiew zu erwarten sind.

Jermaks Rolle war weitaus bedeutender als sein offizieller Titel

Jermak war früher Jurist und Filmproduzent und seit 2019 der wichtigste Berater und rechte Hand Selenskyjs. Bereits in der Filmindustrie hatte er zahlreiche Kontakte in die USA und auch nach Russland. Daher konzentrierte er sich auch in der Politik vorwiegend auf außenpolitische Fragen. Manche Beobachter bezeichneten ihn praktisch wie einen Co-Präsidenten.

Laut politischen Beobachtern überschritt er oft seine Befugnisse, indem er Einfluss auf das Parlament und die Regierung ausübte. So sagte Oleh Rybatschuk, Bürochef des ukrainischen Präsidenten in den Jahren 2005–2006, im Mai 2024 dem ukrainischen Portal „Svidomi“ über Jermak:

„Der Leiter des Präsidialamtes, Andrij Jermak, vertritt die Ukraine bei internationalen Treffen. Dafür gibt es eigentlich spezialisierte Ministerien. Heute jedoch ist die Macht in der Bankowa-Straße konzentriert [der Straße, in der sich das Präsidialamt befindet].“

Andrij Jermak, der Leiter des Präsidialamtes der Ukraine, am 12. Februar 2020 in Kiew. Foto: Sergei Supinsky/AFP via Getty Images

Einer Umfrage von 2023 zufolge äußerte etwa die Hälfte der Befragten die Ansicht, dass Jermaks Büro Einfluss auf die Strafverfolgungsbehörden und die Gerichte ausübte. Korruptionsskandale waren in seinem Umfeld bereits früher ausgebrochen, und in einer Petition vor Beginn des Krieges forderten Ukrainer Selenskyj auf, Jermak zu entlassen.

Der Leiter der Antikorruptionsbehörde berichtete kürzlich zudem, dass eine Person namens Ali Baba eine Art Verfolgung auf die Antikorruptionsermittler eröffnet habe. Er gab jedoch keine Antwort darauf, ob es sich dabei um Jermak handelt, der ebenfalls unter dem Spitznamen Ali Baba bekannt ist. Aufgrund der Namensgleichheit entstand jedoch erhebliche Empörung innerhalb von Selenskyjs Partei.

„Eine kleine Revolution im politischen System“ Kiews

„Es handelt sich nun um eine kleine Revolution im politischen System und im Regierungssystem“, erklärte der in Kiew ansässige Politologe Wolodymyr Fesenko gegenüber „The Guardian“ am 29. November.

„Jermak war eine zentrale Figur in dem von Selenskyj aufgebauten Machtsystem“, betonte er.

Jetzt müsse sich in Kiew vieles grundlegend neu ordnen. Der zentrale Punkt dabei sei, dass bisher praktisch so gut wie alles über Jermak lief – wie Abstimmungen mit den verschiedenen Ministern und Behörden. Selenskyj müsse daher künftig mit wesentlich mehr Akteuren direkt in Kontakt treten als bisher.

„Jermak schirmte nicht nur die Kontakte des Präsidenten zur Außenwelt ab, sondern kontrollierte auch den Informationsfluss und was bis zum Präsidenten vordringen konnte“, sagte Olena Prokopenko, Senior Fellow beim German Marshall Fund, gegenüber der britischen Zeitung.

Die Ernsthaftigkeit der Lage wird dadurch verstärkt, dass das Umfeld durch den Korruptionsskandal ohnehin angespannt und Selenskyjs offizielles Mandat als Präsident zudem seit mehr als einem Jahr abgelaufen ist. De facto konnte er nur aufgrund des Kriegsrechts im Amt bleiben.

„In der ukrainischen Gesellschaft gibt es ein sehr starkes Bedürfnis, den Gesellschaftsvertrag zwischen dem Präsidenten und dem Volk zu erneuern sowie die Beziehungen zwischen dem Präsidenten, dem Kabinett und dem Parlament neu zu ordnen“, betonte Prokopenko.

Laut ukrainischer Verfassung können im Kriegszustand keine Wahlen abgehalten werden. Daher stellt sich vorerst die Frage, inwieweit Selenskyj die Lage bis dahin stabilisieren kann.

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Im Netz der Korruption

Es wird erwartet, dass der Präsident bald einen Nachfolger für Jermak bekannt geben wird. Gleichzeitig wird es zunehmend schwieriger, eine Person zu finden, die nicht in den Korruptionsskandal verwickelt ist. Ein Beispiel dafür ist Rustem Umerov, der in den Friedensverhandlungen Jermaks Rolle als Hauptunterhändler übernommen hat.

Umerov ist Vorsitzender des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats der Ukraine. Bereits am Sonntag leitete er hochrangige Friedensgespräche der ukrainischen Delegation, die in Florida mit US-Außenminister Marco Rubio, Donald Trumps Sonderbeauftragten Steve Witkoff sowie Jared Kushner, dem Schwiegersohn des US-Präsidenten, stattfanden.

(v.l.n.r.) Der Sonderbeauftragte des Weißen Hauses, Steve Witkoff, der US-Außenminister Marco Rubio und Jared Kushner hören zu, während der Vorsitzende des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates der Ukraine, Rustem Umerov (r. Mitte), in Florida, am 30. November 2025 als Leiter der ukrainischen Delegation spricht. Foto: Chandan Khanna/ AFP via Getty Images

Nach seiner Ernennung berichtete die „Kyiv Post“, dass der ehemalige Verteidigungsminister Umerov ebenfalls in den Korruptionsskandal verwickelt sein könnte, der zum Sturz Jermaks führte.

Die 15-monatige Ermittlung der Korruptionsbehörden gipfelte in der sogenannten „Operation Midas“, die ein mutmaßliches Korruptionssystem aufdeckte. Lieferanten von Energoatom, dem staatlichen Nuklearunternehmen, wurden angeblich dazu gezwungen, 10 bis 15 Prozent Schmiergeld zu zahlen – oder riskierten, auf eine schwarze Liste gesetzt zu werden. Der Gesamtschaden wird auf rund 100 Millionen US-Dollar geschätzt.

Umerov wurde Ende November von der ukrainischen Antikorruptionsbehörde als Zeuge befragt. Zudem wird ihm vorgeworfen, fünf US-Immobilien seiner Familie nicht angegeben zu haben, was er jedoch bestreitet.

Im Meinungsartikel der ukrainischen Zeitung wird zudem die Frage aufgeworfen, warum Selenskyj gerade ihn als Verhandlungsführer ausgewählt habe, wo doch zahlreiche erfahrene und qualifizierte Fachkräfte in den Ministerien zur Verfügung stünden.

„Indem er persönliche Verbindungen und Loyalität über Kompetenz stellt, sendet Selenskyj in einem kritischen Moment das falsche Signal“, schreibt der Chefredakteur der Zeitung, Bohdan Nahaylo.

Trump äußert sich zum Korruptionsskandal

Nachdem im Zusammenhang mit dem Korruptionsskandal rund um Energiegeschäfte mehrere Vertraute Selenskyjs, wie die Energieministerin und der Justizminister, zurückgetreten sind, stellt sich die Frage, welche Auswirkungen die Affäre auf den Friedensprozess hat.

US-Präsident Donald Trump kommentierte vor Kurzem die „Korruptionsproblematik“ in der Ukraine. Nach den Gesprächen in Miami zwischen der ukrainischen und der amerikanischen Seite über einen Friedensplan zur Beendigung des Krieges sagte er gegenüber Reportern:

„Da herrscht eine Korruptionsproblematik, die nicht hilfreich ist.“ Auf die Frage, ob dies die Friedensgespräche behindere, antwortete Trump: „Ich habe doch gesagt, dass das seit drei Jahren so läuft, oder? Habe ich das nicht drei Jahre lang gesagt? Ich habe es gesagt. Also war ich weit voraus. Aber ich denke, es gibt gute Chancen, dass wir eine Einigung erzielen.“

Moskau sieht Jermaks Rücktritt als günstiges Signal für mögliche Friedenslösungen

Unterdessen äußerte sich der staatlichen Nachrichtenagentur „TASS“ zufolge auch Rodion Miroshnik, sogenannter Sonderbotschafter des russischen Außenministeriums für die Verbrechen des Kiewer Regimes. Er sagte der russischen Tageszeitung „Iswestija“, dass der Rücktritt Jermaks für die Ukraine möglicherweise neue Chancen eröffne, einen pragmatischeren Kurs in Richtung einer Einigung einzuschlagen.

„Es ist unwahrscheinlich, dass Jermaks Ausscheiden negative Auswirkungen auf den Verhandlungsprozess hat“, sagte er. Während der vergangenen sechs Jahre, in denen er an den Gesprächsformaten mit Russland teilnahm, hätte Jermak Miroshnik zufolge eine eher destruktive Rolle gespielt.

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Natalja Nikonorova, die russische stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für internationale Angelegenheiten im Föderationsrat Donezk, wirft laut „TASS“ die Frage auf, ob der Korruptionsskandal Selenskyj persönlich erreichen könnte. Nikonorova sagte, dass Jermaks Ablösung auf Druck „aus Übersee“ erfolgte. Dies könne auch bald der Fall für Selenskyj sein.

Eine ähnliche Meinung äußerte auch der ukrainische Oppositionsabgeordnete Oleksandr Dubinskyj. Seiner Ansicht nach „besteht das Hauptproblem von Selenskyj derzeit darin, dass er nichts mehr kontrolliert. […] Seine Tage sind gezählt“, schrieb er auf X.



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