Ukraine: Der Rücktritt eines hochrangigen Antikorruptionsbeamten und eine Spur ins Präsidialamt

Seit Beginn der Ermittlungen gegen ein millionenschweres Korruptionsnetz im Energiesektor wächst der Druck auf die ukrainische Führung. Leaks aus Ermittlungen, politische Interventionen und verschwundene Verdächtige sorgen für Misstrauen.
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Ermittlungsfotos der Operation „Midas“: Hochrangige kriminelle Vereinigung im Energiesektor aufgedeckt.Foto: Ukrainische Antikorruptionsbehörde NABU
Von 26. November 2025

In Kürze:

  • Ein Korruptionsskandal von 100 Millionen US-Dollar erschüttert die Ukraine – der Hauptverdächtige ist spurlos verschwunden.
  • Wer war der Informant, der ihn gewarnt hatte, bevor die Ermittler zuschlagen konnten?
  • Ein hochrangiger Antikorruptionsbeamter gerät unter Verdacht und tritt zurück.
  • Die Spuren führen bis in das ukrainische Präsidialamt.

 

Während das Ringen um einen Frieden in der Ukraine voranschreitet, laufen im Hintergrund die Ermittlungen im wahrscheinlich größten Korruptionsskandal während der Amtszeit von Präsident Wolodymyr Selenskyj weiter.

Nur wenige Stunden bevor der Fall öffentlich bekannt wurde, verschwand der Hauptverdächtige. Der Aufenthaltsort des Geschäftsmannes Timur Minditsch ist bis heute unbekannt. Presseberichten zufolge könnte er sich in Israel aufhalten.

Wer die Informationen aus den laufenden Ermittlungen an Minditsch weitergegeben haben könnte, wird derzeit untersucht. Im Zuge der internen Ermittlungen gab Andrij Sinyuk, der stellvertretende Leiter der sogenannten Spezialisierten Staatsanwaltschaft für Korruptionsbekämpfung (SAPO), am 21. November seinen Rücktritt bekannt. Sein Name war kurz zuvor als möglicher Informant bekannt geworden.

Die ukrainische Antikorruptionsbehörde NABU teilt am 11. November mit, dass sie zusammen mit SAPO ein umfassendes kriminelles Netzwerk im Energiesektor aufgedeckt habe, das jahrelang den Staatskonzern Enerhoatom kontrollierte und so rund 100 Millionen US-Dollar (etwa 86 Millionen Euro) veruntreut hatte.

Im Rahmen der Ermittlungen in der Operation „Midas“ wurden acht Verdächtige angeklagt, darunter auch der ehemalige stellvertretende Ministerpräsident Oleksiy Chernyshov. Infolge des Skandals verloren sowohl der Justizminister als auch die Energieministerin ihre Posten.

Mit Minditsch als engem Vertrauten von Selenskyj erhöht sich der Druck in dem Fall auch auf den ukrainischen Präsidenten.

Im Korruptionsfall um die Veruntreuung von 100 Millionen US-Dollar von der staatlichen ukrainischen Atomenergiegesellschaft Energoatom wurde ein Angeklagter vor kurzem aus Deutschland ausgeliefert. Foto: NABU

Die Suche nach der undichten Stelle

Die Ermittlungen gegen das korrupte Netzwerk im Energiesektor liefen bereits seit über einem Jahr, bevor am 10. November die Hausdurchsuchungen schließlich auch den mutmaßlichen Drahtzieher Minditsch erreichten. Dieser ist Filmproduzent und war früher Geschäftspartner von Selenskyj.

Ermittler teilten der „Kyiv Independent“ mit, dass Minditsch bereits mehrere Wochen vor seiner Flucht Informationen über die Ermittlungen erhalten haben könnte. Der Chef von SAPO, Staatsanwalt Oleksandr Klimenko, kündigte am 13. November an, dass seine Behörde ein Verfahren zu Informationslecks eingeleitet habe — dabei tauchte auch der Name von Sinyuk als möglichem Informanten auf.

Dieser bestreitet jedoch, vertrauliche Informationen weitergegeben zu haben. Gegenüber dem ukrainischen Nachrichtenportal „Babel“ erklärte er, dass er seinen Rücktritt eingereicht habe, um Spekulationen über seinen möglichen Einfluss auf die laufenden Ermittlungen zu vermeiden.

Spuren führen bis ins Präsidialamt

Laut „Kyiv Independent“ bewarb sich Sinyuk bereits 2021 für das Amt des SAPO-Chefs, erhielt jedoch letztlich nur die Position des Stellvertreters. Laut der Zeitung zweifelten Antikorruptionsaktivisten damals an Sinyuks Unabhängigkeit. Sie behaupteten, dass das Präsidialamt aktiv auf Sinyuks Ernennung gedrängt habe.

Das Präsidialamt wurde zu jener Zeit bereits von Andrij Jermak geleitet, der unter dem Spitznamen „Ali Baba“ bekannt ist. Der Codename Ali Baba taucht wiederum auch in den Ermittlungsakten des Korruptionsfalls auf.

Ob es sich tatsächlich um dieselbe Person handelt, wurde der Leiter von NABU, Semen Kriwonos, gefragt.

Semen Kriwonos, Leiter der Antikorruptionsbehörde der Ukraine NABU, am 16. Mai 2023 während einer Pressekonferenz in Kiew. Foto: Sergei Supinsky/AFP via Getty Images

Laut „Glavcom“ bestätigte dieser, dass es in der ukrainischen Politik wahrlich eine Person mit dem Codenamen Ali Baba gebe. Diese bekleide „sehr hohe Positionen“ und greife ohne entsprechende Befugnis in die Arbeit von Ermittlungsbehörden ein.

Ob sich hinter dem Codenamen wirklich Jermak, der Leiter des ukrainischen Präsidialamts, verberge, wollte Kriwonos weder bestätigen noch dementieren.

Jermak könnte auch hinter dem Versuch stehen, die Unabhängigkeit der NABU und der SAPO im Juli 2025 aufzuheben. Dieser wurde durch Straßenproteste und politischen Druck aus Brüssel verhindert.

Die Existenz des bislang rätselhaften „Ali Baba“ wurde auch von SAPO-Chef Klimenko bestätigt. Er erklärte, dass es sich um eine reale Person handele, die in der ukrainischen Politik einen solchen Einfluss auf die Strafverfolgungsbehörden ausübe, dass diese die Ermittler von NABU sowie Staatsanwälte der SAPO „verfolgen“.

Selenskyj unter Druck

Nachdem bekannt wurde, dass der Name „Ali Baba“ in den Ermittlungsdokumenten aufgetaucht war, forderten Abgeordnete der Opposition sowie einige von Selenskyjs eigener Partei „Diener des Volkes“ den Präsidenten auf, Jermak zu entlassen

Der Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Jermak, am 29. Januar 2024. Foto: Attila Kisbenedek/AFP via Getty Images

Selenskyj weigerte sich nicht nur, Jermak zu entlassen, sondern betraute ihn sogar mit der Leitung der Friedensverhandlungen.

Laut der ukrainischen Ausgabe von „Radio Free Europe“ erklärte der Präsident am 20. November: „Es gab verschiedene Probleme, darunter auch heikle Themen. Aber das Einvernehmen ist klar: Alle müssen sich für die Ukraine einsetzen, und so wird es auch sein. […] Die wichtigste Aufgabe für alle ist ein konstruktiver diplomatischer Prozess mit Amerika und allen Partnern.“

Abgeordnete der „Diener des Volkes“ forderten zudem, dass das Kabinett neu aufgestellt wird und sämtliche Personen entfernt werden, die mit dem Korruptionsskandal in Verbindung gebracht werden können.

Während der laufenden Friedensverhandlungen könnte jede Enthüllung über eine mögliche Verstrickung hochrangiger Beamter heikel sein und die politische Dynamik beeinflussen.

Anm. d. Red.: Dieser Artikel wurde am 26. November 2025 mit einem längeren Zitat von Selenskyj und Hintergrund zu den Friedensverhandlungen aktualisiert.



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