Groteske Monster? Der heilige Ursprung der Wasserspeier
In Kürze:
- Wasserspeier sind teils gruselig wirkende Steinfiguren in Form von Fabelwesen, Tieren oder Menschen, die der Ableitung von Regenwasser dienen.
- Lange vor dem Mittelalter wurden die Ersten ihrer Art in der Türkei, in Griechenland und in Ägypten verwendet.
- Neben dem praktischen architektonischen Nutzen erfüllen sie zudem einen moralischen und schützenden Zweck.
Sie haben große Augen, weit aufgerissene Mäuler und damit auf den ersten Blick eine erschreckende bis gruselige Wirkung. Gemeint sind Wasserspeier, auch Abtraufe oder Gargoylen genannt.
Diese plastisch ausgearbeiteten Tiere, Fantasiewesen oder Menschen sind meist aus Blech oder Stein und hoch oben an mittelalterlichen Kathedralen angebracht. Was wie übrig gebliebene Halloween-Dekoration wirkt, hatte jedoch einen praktischen Nutzen.
Eine Legende vom Wasserspeier
Die in den Wasserspeiern verborgenen Rohre sorgten dafür, dass das Regenwasser zum Schutz des steinernen Monuments aufgefangen und dann im hohen Bogen abgeleitet wird. Dabei erscheint es, als würden die Wesen das Wasser ausspucken, was ihnen den heute geläufigen Namen „Wasserspeier“ gab.
Ihr anderer Name „Gargoyle“ stammt ursprünglich vom altfranzösischen Wort „gargouille“ ab. Dieses ist aus den Worten „garg“ („schlucken“) und „goule“ („Tiermaul“ oder „Kehle“) zusammengesetzt, was die Funktion und Eigenart des architektonischen Elementes gut beschreibt.
Einer alten französischen Legende aus der Merowingerzeit zufolge war der Heilige Romanus († 640 n. Chr.), Bischof von Rouen, der Erfinder der Wasserspeier. So soll dieser zusammen mit einem zum Tode verurteilten Gefangenen ein Monster namens Gargouille getötet und die Menschen von Rouen gerettet haben. Gargouille werden als feuerspeiende Drachen mit Fledermausflügeln und einem langen Hals beschrieben.
Am Ende brachten der Bischof und sein Helfer das Monster nach Rouen zurück, um es zu verbrennen. Da Kopf und Hals des Feuer speienden Wesens gehärtet waren, ließ der Heilige Romanus den Kopf abschlagen und an die Wand seiner neu gebauten Kirche hängen.
Für seine Hilfe erhielt der Gefangene seine Freiheit zurück, und der Kopf des Drachen sollte künftig die Kirche schützen und böse Geister abwehren. Die Wasserspeier hatten demnach eine heilige und moralische Bedeutung.
Steinzeitliche Wurzeln
Ein Blick in die Geschichte zeigt jedoch, dass Wasserspeier keine Erfindung der Merowingerzeit oder des Mittelalters waren. Der älteste bekannte Wasserspeier ist etwa 12.000 Jahre alt und stammt aus Karahan Tepe in der heutigen Türkei. Dieser ist aus Stein gehauen und zeigt das Antlitz eines Krokodils.
Aber auch die alten Ägypter und die antiken Griechen wussten bereits ihre steinernen Gebäude durch Abläufe, Regenrinnen und Wasserspeier zu schützen. In beiden Fällen kamen meist Löwen zum Einsatz, die Stärke, Wachsamkeit und Schutz des Heiligen symbolisieren. Ein berühmtes Beispiel ist der Zeustempel von Olympia mit seinen 102 löwenkopfförmigen Wasserspeiern aus Marmor.

Löwenkopfförmige Wasserspeier vom Zeustempel in Olympia. Foto: Gemeinfrei
Am häufigsten kamen sie jedoch an romanischen, gotischen und barocken Kirchen zum Einsatz. In dieser Zeit waren die Wasserspeier häufig in Form von Chimären gestaltet, also Mischwesen, die vor allem in der griechischen Mythologie auftreten. Am bekanntesten dafür ist die Notre-Dame de Paris mit ihren 54 Chimären.

Wasserspeier an der Notre-Dame de Paris. Foto: Krzysztof Mizera, Wikimedia Commons | CC BY-SA 4.0
Doch nicht alles, was auf den ersten Blick wie ein Wasserspeier aussieht, ist auch einer. Tatsächlich muss zwischen spuckenden und nicht spuckenden Figuren unterschieden werden. Wenn die Steinfigur kein Wasser spuckt, dann handelt es sich um eine sogenannte Groteske oder Dolerie. Dieses Element hat keinen praktischen baulichen Nutzen, sondern dient lediglich zur Abwehr des Bösen, indem es über die Kirche wacht.

Nicht alle Steinfiguren sind Wasserspeier. Foto: underworld111/iStock
Predigten in Stein
Bevor die Wasserspeier die heiligen Mauern zieren durften, waren sie nach Ansicht der Christen heidnisch. Gargoylen waren, wie ein Großteil der Architektur der katholischen Kirche, eine Wiederverwendung vorchristlicher Motive.
Erst Papst Gregor I. duldete die Verwendung der grotesk wirkenden Wasserspeier. Er begründet dies damit, dass die alten Götter außen an der Kirche sein können, solange Jesus im Inneren wohne. So kam es, dass schließlich Drachen und gehörnte Tiere die Kirchen zierten und in den Glauben eingebunden wurden.
Die meisten Menschen im Mittelalter konnten nicht lesen. Aber sie konnten ein Reptil mit Eidechsenkopf, das Regenwasser spuckt, durchaus als warnendes Beispiel interpretieren. Wasserspeier waren buchstäblich Predigten in Stein. Sie veranschaulichten alles: von der Versuchung Evas bis zu den Gefahren der Völlerei und des Stolzes. Und einige waren etwas seltsam. Warum? Weil mittelalterliche Bildhauer kreative Freiheit genossen. Keine zwei Wasserspeier sind genau gleich.

Besonders mittelalterliche Wasserspeier waren individuell. Foto: Mikhail Proskalov/iStock
Die Kirche war nicht immer begeistert
Heute finden wir Wasserspeier vor allem an Gotteshäusern – doch das war nicht immer so. Im Jahr 1277 beschloss beispielsweise Rikier Amion, ein Geistlicher aus Arras, sein Haus mit einer eigenen Sammlung steinerner Monster zu verschönern. Der Bischof von Arras soll dagegen alles andere als begeistert gewesen sein.
Aber der Trend setzte sich durch, und Wasserspeier tauchten vermehrt auf weltlichen Gebäuden als stilvolle Zeichen moralischer Erinnerung auf. Selbst an einigen Universitäten sind bis heute die steinernen Wasserspeier zu finden.
Der Mönch Bernhard von Clairvaux (um 1090–1153) war bekannt dafür, dass er Wasserspeier hasste. Für ihn waren sie eine übertriebene Ablenkung, eine Verschwendung von Geldern und sogar eine gemeine Form der Ketzerei. „Was sind das für unreine Affen, seltsame wilde Löwen und Monster?“, soll er gefragt haben.
Aber die meisten Geistlichen waren anderer Meinung. Für sie waren Wasserspeier eine Art heilige Vogelscheuchen – ein Mittel, das Böse zu verspotten, unschädlich zu machen und so die Kirche vor ihm zu schützen.

Wasserspeier am Ulmer Münster. Foto: PatrickPoendl/iStock
Wasserspeier waren farbenfroh
Im Gegensatz zu unserem grauen, mit Flechten bewachsenen Bild waren viele Wasserspeier einst bemalt und vergoldet. Sie waren farblich gekennzeichnete Warnungen – wie Ampeln mit Hörnern. Im Laufe der Zeit verloren sie jedoch ihre Farbe, sodass viele Menschen von einem farblosen und düsteren Mittelalter ausgehen.
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Wenn Sie also das nächste Mal einen Wasserspeier auf einem Dach sehen, der mitten im Schrei erstarrt ist, dann schenken Sie ihm einen Moment. Diese Kreaturen haben Reiche, Reformen, sauren Regen und Kritiker überlebt und sind ein Symbol unserer uralten Tradition.
In einer Welt, die von Glanz und Perfektion besessen ist, ist es seltsamerweise beruhigend zu wissen, dass etwas Altes, das zum Himmel heult, immer noch einen Platz haben kann. Und einen Zweck.
Dieser Artikel erschien im Original auf theepochtimes.com unter dem Titel: „Not Just Halloween Leftovers: The Holy Origins of Gargoyles“. (redaktionelle Bearbeitung kms)
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